Eine Vorhaut klagt an
weil ich Fahrrad gefahren war? Würde Er mich töten? Würde Er meine Familie töten? Tötete Er sie vielleicht gerade? Hatte ich nicht gerade ein Feuerwehrauto vorbeifahren hören? Fuhr es zu meinem Haus? Waren sie alle tot?
Ich sprang wieder auf mein Fahrrad und fuhr, so schnell ich konnte, nach Hause. Ich legte das Fahrrad wieder aufs Feld und lief durch den Wald, vorübergehend erleichtert, dass keine Feuerwehr- und Rettungsautos um mein Haus herum standen, bis ich auf die Idee kam, dass es auch nur eine List sein konnte und sie drinnen alle tot waren – ein Mord, ein Gasleck, weiß man’s? Leise schlich ich mich durch die Hintertür hinein, zog die Turnschuhe aus und ging nach oben, wobei ich Gott stumm versprach, nie wieder den Sabbat verletzen zu wollen.
– Chratschuuungk , sagte mein Vater.
Er schlief auf dem Fußboden im Wohnzimmer und schnarchte laut. Meine Mutter hatte sich auf die Couch gemummelt und las House Beautiful .
– Wo warst du?, fragte sie.
– Bei Dov.
Sie blätterte in der Zeitschrift und schüttelte den Kopf.
– Es ist schön zu träumen, seufzte sie.
– Wiiieee-gschrak , sagte mein Vater.
Ich ging in die Küche, machte mir eine Tasse Tee, setzte mich zu meiner Mutter und sah hinaus. Draußen lief Lince vorbei.
– Wow, flüsterte ich.
– Also ehrlich, sagte meine Mutter. – Weißt du, was so ein Wintergarten kostet?
– Ich mach einen Spaziergang, sagte ich.
Lince verschnaufte in ihrer Auffahrt, als ich vorbeiging. Die eine Hand hatte sie auf ihrem Wagen, mit der anderen umfasste sie den Spann, und dabei streckte sie die rassigen Beine und drehte den langen, kräftigen Hals. Ich ging vorbei und versuchte, nicht so auszusehen, als sähe ich zu ihr hin, und bog nach rechts in die Carlton Road ein, auf der ich an der Seite ihres Hauses vorbeikam. Von dort konnte ich über den Rasen blicken und sie durch die Bäume sehen. Die Haustür ging auf, und ich erschrak. Es waren Leon, Linces Bruder, und Freunde von ihm.
Leon war ein Jahr älter als ich. Wir – Leon, sein jüngerer Bruder Lionel und ich – hatten immer im Wald hinter unseren Häusern gespielt. Danach hatten wir in Leons Zimmer gesessen und Comics gelesen.
– Willst du eins?, hatte Lionel mich an einem Freitagnachmittag gefragt und mir ein Twinkie hingehalten.
– Shellum kann das doch nicht essen, du Idiot, sagte Leon.
– Warum nicht?
– Er ist koscher.
– Na und?
Leon schüttelte den Kopf.
– Shellum, fragte Leon mich, – ist Twinkie koscher?
Ich schüttelte den Kopf.
– Schon gut, sagte ich.
– Siehst du?, sagte Leon und riss Lionel mein Twinkie aus der Hand. – Blödmann.
– Verdammt, sagte Lionel. – Du kannst nie ein Twinkie essen? Ich zuckte die Achseln.
– Vielleicht sind sie ja irgendwann mal koscher, sagte ich. – Wenn der Messias gekommen ist.
– Was ist der Messias?, fragte Lionel.
– Das Ende der Welt, sagte ich.
Leon biss von meinem Twinkie ab.
– Verdammt, sagte er zu sich. Dann sah er zu Lionel hin. – Ich glaub, wir haben nichts Koscheres, oder?
– Weiß ich nicht, sagte Lionel. Er sah zu mir her. – Oder?
Ich zuckte die Achseln.
– Habt ihr Äpfel?
– Ja, Äpfel haben wir, sagte Leon.
– Äpfel sind koscher, sagte ich.
– Willst du einen?, fragte Leon.
– Nö.
Leon stand auf und holte mir einen Apfel.
– Danke, sagte ich.
– Kann ich mal deine Beanie aufsetzen?, fragte Lionel.
Leon machte ts und schüttelte den Kopf.
– Klar, sagte ich.
Lionel probierte sie auf, aber er hatte einen Afro, und so saß sie nur irgendwie über dem Kopf und nicht richtig drauf. Leon hatte feste Cornrows, diese kleinen Zöpfe am Kopf, daher passte sie ihm besser. Er stand langsam auf und lief herum, trat dabei leicht auf, als wollte er ein Buch auf dem Kopf balancieren.
– Verdammt, sagte er.
Das war ein paar Jahre her; in der letzten Zeit, seit Leon an der Junior High war, hatten wir nicht viel gesprochen. Unsere Freundschaft schien zu verkümmern, neue Freunde traten in unser Leben: Freunde von ihm, die sich wunderten, warum er mit mir sprach, Freunde von mir, die sich wunderten, warum ich mit ihm sprach. Erst sagten wir noch Hallo, dann winkten wir uns zu, dann wurde nur noch genickt.
Als Leon an jenem Samstagnachmittag zur Einfahrt ging, sah er mich vorbeilaufen. Ich winkte knapp. Er nickte knapp. Einer seiner Freunde lächelte. Der andere Freund lachte und stieß Leon gegen den Arm. Zu dritt gingen sie in die Garage.
Ich ging weiter zur Pine Road, drehte
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