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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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grinste meinen Vater an und ging weiter. Mein Vater, der sich gerade am Küchentresen einen Apfel schnitt, biss auf die Zähne und machte mit dem Messer eine Stechbewegung. Ich erblickte die Engel vor dem Küchenfenster.
    – So soll es am nächsten Sabbat sein, sagte der eine Engel.
    – So soll es sein, sagte der andere.
    – Verpisst euch, sagte ich zu ihnen.
    Der große schrieb etwas in sein Notizbuch, der kleine zeigte mir den Finger, dann schwebten sie davon. Ich ging nach unten und blieb vor der Haustür stehen, denn Lince rannte vorbei. Sie umkreiste die Sackgasse und lief wieder die Straße hinauf.
    Ich ging auf mein Zimmer, holte meinen Geldbeutel (verboten), nahm Geld heraus (verboten), belog meine Mutter, indem ich sagte, ich wolle zu Ari (verboten), und ging zur Haustür hinaus.
    Scheiß drauf , dachte ich, ich geh in die Mall .
     
    Es war Samstagnachmittag, und die Synagoge war leer; alle waren zu Hause, schliefen ihren Sabbatlunch weg und verteidigten die Brownies gegen ihre Kinder.
    – Hallo, flüsterte ich in das Münztelefon. – Ich brauche ein Taxi.
    – Sprechen Sie lauter, Ma’am, sagte die Zentrale.
    – Ich sagte, ich brauche ein Taxi.
    – Wohin möchten Sie?
    – Die Nanuet Mall.
    – Wie?
    – Die Nanuet Mall!
    – Wo sind Sie?, fragte der Mann.
    – Carlton Road, flüsterte ich.
    – Fünf Minuten, Ma’am.
    Es war eine Sache, am Sabbat mit dem Münztelefon zu telefonieren – Ärzte machten das ständig. Aber in ein Auto einsteigen? In die Mall gehen? Das war eine ziemlich ernste Angelegenheit. Den Sabbat zu verletzen , hörte ich Rabbi Blowfeld sagen, ist, wie alle 613 Gebote zu verletzen. Mose hatte in seinem ganzen Leben eine Sünde begangen, und deswegen tötete ihn Gott, bevor er das Gelobte Land erreichte. Eine Sünde. Sara lachte – sie kicherte –, und da Gott wusste, dass sie es eines Tages tun würde, hatte Er sie unfruchtbar gemacht.
    Ich stand im Eingang der Synagoge, wartete auf mein Taxi und überlegte, wie Gott mich wohl für 613 Sünden bestrafen würde. Würde Er mich unfruchtbar machen? Gab es ein Gelobtes Land, das ich nie erreichen würde? Vielleicht hatte Gott mich ja schon bestraft, und ich wusste es gar nicht. Vielleicht hatte Er meine Familie getötet. Vielleicht hatte Er das Haus niedergebrannt, während ich hierhergelaufen war. Hatte ich nicht vorhin Sirenen gehört? Waren Killer eingebrochen, nachdem ich gegangen war? Waren sie jetzt gerade im Haus? Vielleicht fesselten sie meine Familie jetzt in diesem Augenblick, Waffen an ihre Schläfen gepresst, und vielleicht wartete Gott ab, was ich tat – ging ich gleich zurück, würde Er die Kidnapper verschwinden lassen. Aber sobald ich ins Taxi eingestiegen wäre, würde Er …
    Ich erschrak, als der Taxifahrer auf die Hupe drückte. Ich nahm meine Tasche, rannte hinaus, sprang auf die Rückbank und knallte die Autotür hinter mir zu.
    Peng, 613 Sünden.
    – Nanuet Mall?, fragte der Fahrer.
    – Psst! , sagte ich, hielt einen Finger hoch, damit er den Mund hielt, und horchte kurz auf Schüsse.
    Nö.
    Nichts.
    – Ja, sagte ich. – Nanuet Mall.
    Da saß ich an dem Sabbatnachmittag nun im Taxi und wusste nicht einmal genau, warum ich in die Mall wollte – vielleicht hoffte ich, etwas zu finden, vielleicht hoffte ich, vor etwas zu fliehen, vielleicht wollte ich auch einfach wissen, dass ich hinkonnte, wenn ich wollte, wenn ich musste –, und verletzte gleichzeitig das Vierte Gebot, die Braut, das Geschenk, den Bund und die zarte Blume, und wieder dachte ich an Mose. Eine Sünde und zack-peng. Gerade hatte ich 613 angesammelt, und der Tag war noch nicht vorbei. Dieselbe Angst, die mich nur wenige Wochen zuvor vor Caldor’s gepackt hatte, legte mir nun ihre kalte Knochenhand auf die Schulter und zog mich zu sich heran. Ich sank in den Rücksitz, starrte aus dem Fenster und verarbeitete die spirituellen Zahlen:
    Okay. Leugnen ist zwecklos – Auto am Sabbat war eine schwere Verletzung. Man fuhr ja nicht einfach im Auto. Man assimilierte sich. Man führte zu Ende, was Hitler begonnen hatte.
    Als ich kleiner war, ging ich immer neben meinem Vater zur Synagoge. Mein Vater brüllte die Autos an.
    – Langsamer!, schrie er, trat auf die Straße und schwenkte die Arme über dem Kopf. – Wenn du einen Juden umbringst, bist du glücklich.
    Sie wichen hektisch aus, um ihn nicht anzufahren, oder sahen uns an, als wären wir aus dem Fernsehen. Oder Aliens.
    – Ante-Semitin , grummelte er dann auf Jiddisch.

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