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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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ein Buch in der Hand. The Jewish Way in Death and Mourning.
    – Für Mrs Pleeter, erklärte sie. – Das wird sie ein wenig aufmuntern.
    Wie es hier wohl samstags ist? , fragte ich mich.
     
    – Chrrnnck, sagte mein Vater.
    Es war Sabbatnachmittag – Brautnachmittag, Bundnachmittag, Geschenknachmittag –, und ich hockte mit gesenktem Kopf am Küchentisch und starrte an der Schachtel Entenmann’s Kaffeekuchen vorbei auf die vergilbte Uhr mit den Klappziffern auf dem Herd an der Wand. Praktisch seit Stunden hatte sie 13.59 Uhr angezeigt. Endlich setzte die obere Hälfte der Neun zu ihrem aufreizenden Sturz nach vorn an, ein Zeitlupenselbstmord von der Spitze des höchsten Gebäudes im Uhrenland, und landete einige Zeit später mit der Vorderseite auf ihrem endgültigen Ruheplatz.
    Ich gähnte.
    Der Stuhl ächzte.
    Der Kühlschrank stöhnte.
    Es war 14.00 Uhr.
    Mein Vater lag auf dem Rücken ausgestreckt auf dem Fußboden im Wohnzimmer und schnarchte laut. Unter ihm steckte die Comicseite der Lokalzeitung fest.
    Der Wizard of Id ächzte; er machte es wohl nicht mehr lange. Beetle Baily war schon lange tot. Ebenso Sarge.
    – Junge, sagte Dagwood Bumstead, – hol … Hilfe …
    – Chrrrngkrz , sagte mein Vater.
    Meine Mutter hatte es sich mit der Jewish Press auf der Couch bequem gemacht.
    – Zehn israelische Soldaten im Libanon getötet, las sie vor. – Achtzehnjährige. Babys.
    Lieber hätte sie allerdings Romantic Homes oder gar Great Kitchens gelesen, doch die Versuchung, eine Couch umzustellen oder das Buffet, konnte sich als zu stark erweisen; es war verboten, am Sabbat die Möbel umzustellen, es war verboten fernzusehen, es war verboten zu schreiben, es war verboten zu zeichnen, es war verboten zu malen. Es war verboten, mit der Eisenbahn zu spielen, weil sie Strom verbrauchte. Es war verboten, Lego zu spielen, weil das als Bauen galt. Es war verboten, mit Knetmasse zu spielen, denn wenn man die auf eine Zeitung drückte, drückte sich etwas Druckerschwärze darauf, daher galt es als drucken. Erlaubt war nur essen, schlafen und lesen, aber ich konnte Freitagnachmittag so viele Bücher aus der Bibliothek mitnehmen, wie ich wollte, Freitagabend hatte ich sie alle durch, und am Samstagnachmittag hockte ich am Küchentisch und las die Seite von Entenmann’s Donut-Schachtel zum zehntausendsten Mal. Die Geschichte von Entenmann’s, der Preis pro Pfund Entenmann’s, die Zutaten von Entenmann’s; ich wusste mehr über Entenmann’s Donuts als die meisten Entenmanns selbst.
    – Wieder ein Friedhof in Deutschland geschändet, hörte ich meine Mutter lesen. – Sechs Millionen haben denen nicht gereicht.
    Ich fragte mich, wie es wohl war, ein Entenmann zu sein. Bei denen roch es vermutlich nach Keksen. Samstagmorgens sprangen wir Entenmanns alle aus dem Bett und rannten hinunter zur Küche, wo wir den ganzen Vormittag damit verbrachten, Donuts in riesige Bottiche mit dicker Schokoglasur zu tunken, die aus teilweise ungehärtetem Pflanzenfett, Zucker, Mehl, gemälztem Gerstenmehl, reduziertem Eisen, Niazin, Thiamin, Mononitrat, Riboflavin, Folsäure, Wasser, Kakao, fettfreier Milch, Glukose-Fruktose-Sirup, Dextrose und Polysorbat 60 bestand.
    – Chaser , hörte ich meinen Vater sagen. Schwein. – Iss nicht alle Brownies.
    – Ich hab bloß zwei gegessen, sagte mein Bruder. Er saß am Tisch im Esszimmer.
    – Das waren mehr als zwei.
    Mein Bruder hatte wohl gegrinst oder eine Grimasse gezogen. Ich hörte meinen Vater aufstehen und ins Esszimmer stampfen.
    – Ist was lustig?, hörte ich meinen Vater fragen. Kurze Pause. – Lümmel.
    – Wer will die Plunder füllen?, sang Mrs Entenmann.
    – Yayy!, jubelten wir alle und liefen zu ihr hin.
    Mein Vater kam in die Küche gestampft und goss sich eine Tasse Tee ein.
    – Was machst du denn damit?, fragte er, den Blick auf der Schachtel Entenmann’s Donuts. – Du bist flajschig .
    Das bedeutete, dass ich unlängst Fleisch gegessen hatte und keinerlei Milchprodukte essen durfte.
    – Ich lese die Schachtel.
    – Lies eine andere Schachtel, sagte er, nahm sie vom Tisch und stellte sie auf den Kühlschrank.
    Ich ging zur Speisekammer und holte das Nestlé Quik heraus, auf dessen Rückseite die Geschichte der Schokolade stand. Die hatte ich schon zwanzigtausendmal gelesen.
    Im Jahr 1492 bekamen Königin Isabella und König Ferdinand …
    Mein Bruder ging mit einem Brownie in der Hand an der Küche vorbei. An der Tür blieb er stehen, biss übertrieben davon ab,

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