Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
Vom Netzwerk:
nicht verheiratet waren, war es uns verboten, allein zu sein. Sie zeigte mir Häuser, in denen berühmte Rabbis gewohnt hatten, und ich zeigte ihr, wo meine Lieblingsantiquariate waren. Sie wirkte besorgt.
    – Aber solche Sachen lese ich nicht mehr viel, sagte ich. – Ich bin zu sehr mit der Tora beschäftigt.
    Ich kündigte meinen Job in der Bar. Ich ging zum Morgengebet. Dann ging ich auch noch zum Abendgebet. Das Nachmittagsgebet nervte immer noch ein bisschen.
    Es war Frühling geworden, und der bedrückende Regen des israelischen Winters wich der bedrückenden Hitze des israelischen Sommers. Eines Sonntagvormittags lud ich Naomi ein, mich bei einem Ausflug nach Netanja zu begleiten, doch sie sagte, sie fühle sich in letzter Zeit nicht wohl und wolle den Tag im Bett bleiben. Ich versuchte, sie mir nicht im Bett vorzustellen, und fuhr allein nach Netanja. Fast den ganzen Vormittag saß ich am Sandstrand, bis ich Hunger bekam und mich auf die Suche nach etwas zu essen machte. Ich setzte mich in ein Café, bestellte einen Burger und schaute zu dem Café gegenüber, wo ich an einem Straßentisch Naomi mit Tzvi sitzen sah. Sie lachten und tranken zusammen einen Milkshake, die Strandtücher lässig über die Schultern gelegt. Sie bemerkten mich nicht. Ich beobachtete sie eine Weile, zahlte, wusch mir die Hände, sprach das Tischgebet nach dem Mahl und verpisste mich.
    In der Jeschiwe hing ein langer Streifen grünes Klopapier an meiner Tür. Mutter hat angerufen , stand darauf. Betr.: Großmutter .
    Hinreichend spezifisch, um erst Befürchtungen zu wecken, hinreichend vage, damit sie später bestreiten konnte, das beabsichtigt zu haben. Klassisch. Ich ließ meinen Rucksack aufs Bett fallen und nahm den Hörer ab.
    – Was ist?, fragte ich meine Mutter.
    – Wie geht’s deinen Rabbis?, fragte sie. – Warst du an König Davids Grab?
    – Wie geht’s Baba?
    Pause. Seufzen. Elend. Tod.
    – Sie ist wieder im Krankenhaus. Sie ist schwach. Sie ist gebrechlich. Sie lebt von einem Tag auf den anderen.
    – Vielleicht sollte ich zur Mauer gehen, sagte ich. – Ein paar Worte mit Gott sprechen.
    – Das wäre nett, sagte meine Mutter.
    Ich lief den Berg hinunter, sprang in ein Taxi, stieg in den Bus, stieg in den zweiten Bus und ging eine Viertelstunde durch die schmalen Gassen der Altstadt. Einmal glaubte ich, jemand habe einen Stein nach mir geworfen, aber ich hatte in meiner Hast durch die schmalen Gassen nur selbst einen angestoßen. Als ich die Mauer erreichte, war es schon dunkel geworden, und bis auf einige Soldaten und ein paar alte Rabbis, die für wohltätige Zwecke sammelten, war die Mauer verlassen. Ich zog meinen Kuli und mein zerknülltes Stück Papier hervor. Ich dachte an meine Großmutter. Ich dachte an meinen Großvater neben ihr. Ich dachte an meine Mutter, an Naomi, an Tzvi, und ich dachte an die neue Kipa auf meinem Kopf und was sie Tolles für mich geleistet hatte. Ich stand vor der Mauer und strich das Papier auf dem Bein glatt.
    Fick Dich , schrieb ich.
    Ich zerknüllte das Papier zu einer winzigen Kugel, die ich tief in den Spalt vor mir stopfte, so tief ich nur konnte. Ich steckte den Kuli in die Tasche, drehte mich um und ging.
    Ich war keine zehn Meter gegangen, als ich die Nerven verlor. War ich denn wahnsinnig geworden? Was tat ich denn da? Gott würde total durchdrehen, wenn Er das las. Hatte ich den Verstand verloren?
    Ich rannte zur Mauer zurück und suchte nach meinem Zettel, hoffte, dass Gott ihn noch nicht gelesen hatte. Ich fand ihn und versuchte verzweifelt, das verdammte Ding mit den Fingern herauszuzerren. Er steckte ziemlich tief drin, also versuchte ich es mit dem Kuli. Aber schon nach wenigen Sekunden packte mich ein wütender israelischer Soldat grob an den Schultern, riss mich herum und stieß mich gegen die Mauer.
    – Asur! , brüllte er und packte mich am Kragen. Verboten!
    – Nein, nein, sagte ich, – Sie verstehen nicht.
    Acht Monate war ich nun in Israel, und noch immer brachte ich nicht mehr als ein holpriges, kaum verständliches Gemisch aus Hebräisch und Englisch zustande. Der Stress, von einem Soldaten der israelischen Streitkräfte angegriffen zu werden, machte es nicht gerade deutlicher.
    – Ani gesteckt, äh, Zettel betoch , rein, betoch Mauer … we-achschaw, ani … äh, ani will ihn wiederhaben.
    – ASUR ! , brüllte er wieder und bedeutete mir, von der Mauer wegzugehen. – ASUR !
    Ich wollte es ihm erklären, doch der Herr hatte das Herz des Soldaten in

Weitere Kostenlose Bücher