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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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mit dem Taxi ging durch Abu Ghosh, die riesige, im Allgemeinen freundliche Araberstadt auf der anderen Seite des Berges, aber die Intifada, wer wusste schon, was da abging? Es war wie mit den Krawallen nach den NBA -Finals, nur in jeder Stadt, jeden Abend, und diese Leute feierten nicht. Selbst wenn ich ungesteinigt nach Jerusalem gelangte, der Gang durch die Altstadt war kein Picknick; Geschichten von Arabern, die Touristen erstachen, waren ziemlich verbreitet, und selbst wenn man es lebend bis zur Mauer schaffte, standen die Chancen nicht schlecht, dass man von den Arabern auf dem Tempelberg darüber mit einem Steinhagel begrüßt wurde.
    Ich setzte mich im Bett auf und steckte mir eine Zigarette an.
    Wenn es aber doch was nützte, dass ich zur Mauer ging? Und wenn Er tatsächlich alle Zettel las, die die Leute in diese Mauer steckten? Wenn ich nun hinging und Baba sich wieder erholte? Und wenn ich nicht hinging und Baba dann starb?
    Rasch zog ich mich an.
    – Ach, komm, würde Er sie wirklich töten, nur weil du nicht zur Mauer gegangen bist?
    – Na, würde Er sie wirklich retten, nur weil ich hin bin?
    – Du machst dich lächerlich.
    – Ich mache mich lächerlich?
    Ich nahm mir einen Stift und ein kleines Stück Papier und machte mich auf zum Allerheiligsten.
    Ich lief den Berg hinunter, nahm ein Taxi, fuhr mit dem Bus in die Stadt, mit dem zweiten Bus zum Jaffa-Tor und ging eine Viertelstunde lang durch die Altstadt. Ich bog in eine dunkle Gasse nach der anderen und überlegte mir dabei, wie ich meine Nachricht beginnen sollte. »Gott«? Zu lässig. »Lieber Gott«? Zu sehr wie Judy Blume. »G«? Zu sehr wie Run- DMC . Wie lange musste der Zettel dortbleiben, bis Gott ihn beantwortete? Und wenn es nun über Nacht regnete und mein Zettel fortgespült wurde? Las Er ihn gleich, wenn er in die Ritze gesteckt wurde, oder dauerte es, na, einen Tag oder so? Würde es das Gebet ungeschehen machen, wenn der Zettel herausgezogen würde? Und wenn ich um Gnade bat und Gnade bedeutete, dass Gott sie morgen sterben ließ? Wenn dem so war und ich Gott bat, keine Gnade walten zu lassen – »Höre, o Gnadenloser« –, würde sie dann noch ein paar Jahre leben?
    Und dann war sie plötzlich da; im dunklen Nachthimmel, am anderen Ende eines glatten weißen Platzes aus Stein. Starke Lichter erhellten den Platz von allen Seiten. Sie schien zu schweben, zu leuchten. Es war wie der Times Square, nur mit Gott.
    Von Angst und Schrecken erfüllt, näherte ich mich dem Kontrollposten vor dem Platz. Ich wollte sie nicht ansehen. Ich wollte nicht näher hin. Ich wollte sie nicht berühren. Meine Gedanken waren von Gott erfüllt, von Schöpfung ex nihilo, von den Bibelcodes, vom Holocaust und von der Inquisition, von Römern, Hethitern, Amoritern und Deutschen, von Rabbi Akiba, wie er gehäutet wurde, von dem Licht und der Leere, von Sünde und Erlösung, Gnade und Rache.
    Du bist nicht König David , sagte ich mir immer wieder. Du bist nicht der beschissene König David.
    – Aufmachen, sagte die Chajelet und deutete auf meine Jacke.
    Ihre braune Haut glänzte. Ihre schwarze Uzi schimmerte. Als sie mich abtastete, vollführten ihre Brüste einen eigenen heftigen Aufstand, okkupiert, wie sie waren, von den beengenden Knöpfen ihrer Militärbluse.
    Klasse, Gott.
    Die Klagemauer ist 48 Meter lang und rund 18 Meter hoch, und obwohl ich einmal am Fuß des Empire State Building gestanden und nach oben gesehen hatte und obwohl ich einmal auf dem World Trade Center gestanden und nach unten gesehen hatte, hatte ich mich nie so unbedeutend gefühlt wie am Fuß dieser alten Mauer. Links von mir lehnte ein alter Rabbi mit einem langen Silberbart müde an der Wand, das Gesicht in der Armbeuge vergraben. Ich hörte ihn stöhnen, und in diesem Stöhnen lag Resignation; irgendwo starb jemand. Dicht bei mir kniete ein Mann neben seinem jungen Sohn, und gemeinsam streckten sie langsam die Hand zur Mauer aus. Ich sah nach rechts; neben mir legte ein Soldat die Hände an die Mauer, beugte sich vor und küsste sie; so verharrte er, die Stirn gegen die Mauer gedrückt, die Augen geschlossen, die Metallspitze seiner Uzi scheuerte leicht gegen den Stein. Ich griff in die Tasche und zog mein Stück Papier hervor.
    Bitte , schrieb ich darauf.
    Ich entdeckte einen kleinen Spalt zwischen zwei großen Steinen unten in der Mauer und drückte meinen Zettel hinein.
    Hinter mir bat ein Paar ein anderes, ein Foto von ihm zu machen.
    – Kriegt ihr die Mauer mit drauf?

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