Eine wie Alaska
Warum?«
»Einmal letztes Jahr, als sie und Takumi und ich in der Rauchergrotte waren, stand da am anderen Bachufer so ein kleines weißes Gänseblümchen, und plötzlich ist sie hüfttief ins Wasser gesprungen, rüber gewatet und hat es gepflückt. Sie hat es sich hinters Ohr gesteckt, und als ich sie nach der Blume fragte, erzählte sie, dass ihre Eltern ihr als kleines Mädchen immer weiße Blumen ins Haar gesteckt hatten. Vielleicht wollte sie mit weißen Blumen sterben.«
»Vielleicht wollte sie sie Jake zurückgeben«, sagte ich.
»Vielleicht. Aber der Bulle hat mich ziemlich überzeugt, dass es Selbstmord gewesen sein könnte.«
»Vielleicht sollte man die Toten in Frieden lassen«, murmelte ich frustriert. Mir schien, als würde nichts, was wir herausfinden könnten, irgendwas besser machen, und ich wurde das Bild nicht los, wie das Lenkrad gegen ihre Brust prallte, ihr den Brustkorb eindrückte, während sie nach Luft schnappte, aber keine Luft bekam. Nein, das machte nichts besser. »Und wenn sie es getan hat?«, fragte ich den Colonel. »Das macht uns nicht weniger schuldig. Es macht nur sie zu einer gemeinen, egoistischen Ziege.«
»Herrgott noch mal, Pummel. Erinnerst du dich überhaupt noch an den Menschen, der sie gewesen ist? Erinnerst du dich, dass sie eine egoistische Ziege sein konnte? Das war ein Teil von ihr, und auch du kanntest sie so. Du tust so, als würde dir nur die Alaska was bedeuten, die du erfunden hast.«
Ich lief schneller, ging voraus, schweigend. Der Colonel hatte keine Ahnung. Er war schließlich nicht der Letzte gewesen, den sie geküsst hatte, er war nicht der, dem sie ein unhaltbares Versprechen gegeben hatte, er nicht, sondern ich. Scheiß drauf , dachte ich, und zum ersten Mal dachte ich ernsthaft darüber nach, ob ich einfach nach Hause zurückgehen sollte, auf das große Vielleicht verzichten für die bequeme Vertrautheit der alten Langweiler. Sie mochten ihre Fehler haben, doch wenigstens war mir von meinen Klassenkameraden in Florida noch keiner unter der Nase weggestorben.
Als bereits ein gutes Stück zwischen uns lag, holte mich der Colonel joggend ein. »Ich will doch nur, dass alles wieder normal ist«, sagte er. »Du und ich. Normal. Lustig. Einfach normal. Und ich hab das Gefühl, wenn wir wüssten –«
»Na schön«, unterbrach ich ihn. »Na schön. Wir suchen weiter.«
Der Colonel schüttelte den Kopf, doch dann lächelte er. »Die Begeisterungsfähigkeit hab ich immer so an dir gemocht, Pummel. Ich tu einfach, als hättest du sie noch, bis sie zurückkommt. Und jetzt lass uns heimgehen und rausfinden, warum manche Menschen Schluss mit ihrem Leben machen wollen.«
Vierzehn Tage danach
Warnsignale bei Selbstmordkandidaten, die der Colonel und ich im Internet fanden:
• frühere Selbstmordversuche
• Äußerungen, die auf Selbstmord hinweisen
• verschenken von geliebten Besitztümern
• sammeln und diskutieren von Selbstmordmethoden
• Hoffnungslosigkeit und Wut auf sich selbst und/oder die Welt
• Auseinandersetzung (schreiben, reden, lesen oder
zeichnen) mit den Tod und/oder Depressionen
• Bemerkungen wie, man werde nicht vermisst,
wenn man fort wäre
• Selbstverletzungen
• Verlust eines Freundes oder Familienmitglieds
durch Tod oder Selbstmord in jüngerer Zeit
• plötzlicher dramatischer Leistungsrückgang
• Essstörungen, Schlaflosigkeit, zu viel Schlaf,
chronische Kopfschmerzen
• Missbrauch (oder gesteigerter Missbrauch)
bewusstseinsverändernder Substanzen
• nachlassendes Interesse an Sex, Hobbys und
anderen vormals geschätzten Beschäftigungen
Bei Alaska hatte es zwei dieser Anzeichen gegeben. Sie hatte ihre Mutter verloren, wenn auch nicht in jüngerer Zeit. Und ihr Alkoholkonsum, der immer reichlich gewesen war, hatte sich im letzten Monat definitiv gesteigert. Außerdem hatte sie vom Sterben gesprochen, wenn auch scheinbar nur zum Spaß.
»Ich mache die ganze Zeit Witze über den Tod«, widersprach der Colonel. »Mindestens einmal die Woche mache ich einen Witz darüber, wie ich mich mit der Flamingokrawatte aufhänge. Und ich hab nicht vor, mich umzubringen. Das zählt also nicht. Verschenkt hat sie nichts, und das Interesse an Sex hat sie offensichtlich nicht verloren. Man muss ganz schön notgeil sein, um mit dir Hänfling rummachen zu wollen.«
»Sehr witzig«, sagte ich.
»Ich weiß, ich bin ein Genie.
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