Eine wie Alaska
man neunzehn sein.
»Geben Sie mir einen Strafzettel, wenn Sie wollen. Ich will nur wissen, was Sie gesehen haben.«
»Ich arbeit’ fast immer von sechs bis Mitternacht, aber in der Nacht hab ich die Friedhofschicht übernommen. Es kam ne Durchsage wegen nem Lastwagen, der umgekippt is’, und ich war nur nen halben Kilometer weg, also bin ich rüber und hab die Unfallstelle gesichert. Ich sitz’ noch in meinem Wagen, als ich im Augenwinkel die Scheinwerfer seh’, dabei hatt’ ich Blaulicht an und alles, und da hab ich auch noch die Sirene angestellt, aber die Scheinwerfer kamen direkt auf mich zu, Junge, und da bin ich schnell raus und zur Seite gerannt, und sie is’ einfach reingerast. Ich hab schon viel gesehen, aber so was, so was hab ich noch nich’ gesehen. Is’ kein bisschen ausgewichen. Hat nich’ gebremst. Is’ einfach reingerast. Ich war nich’ mehr als drei Meter vom Wagen weg, als sie drauf gefahren is’. Ich hab gedacht, jetzt sterb’ ich. Aber ich steh’ ja noch hier.«
Zum ersten Mal begann mir die Geschichte des Colonels einzuleuchten. Sie hatte die Polizeisirene nicht gehört? Sie hatte das Blaulicht nicht gesehen? Sie war nüchtern genug gewesen, um gut zu küssen, dachte ich. Muss sie dann nicht auch nüchtern genug gewesen sein, das Steuerrad herumzureißen?
»Haben Sie ihr Gesicht gesehen, bevor sie auf den Wagen prallte? War sie eingeschlafen?«, fragte der Colonel.
»Kann ich nich’ sagen. Hab nichts gesehen. Ging alles viel zu schnell.«
»Verstehe. War sie tot, als Sie zum Wagen kamen?«
»Ich – ich hab getan, was ich konnte. Bin gleich zu ihr hingerannt. Aber das Lenkrad – also, ich hab reingegriffen, gedacht, wenn ich sie vom Lenkrad los krieg’, aber keine Chance, dass man sie da lebendig rausgekriegt hätte. Hat ihr einfach die Brust eingedrückt, versteht ihr.«
Ich zuckte zusammen. »Hat sie noch irgendwas gesagt?«, fragte ich.
»Sie war bewusstlos, Junge«, sagte er kopfschüttelnd, und meine letzte Hoffnung auf ihre letzten Worte schwand.
»Glauben Sie, es war ein Unfall?«, fragte der Colonel, während ich mit hängenden Schultern neben ihm stand und mich nach einer Zigarette sehnte, doch ich war zu nervös, um so dreist zu sein wie er.
»Seit sechsundzwanzig Jahren bin ich hier Polizeibeamter, und ich hab mehr Betrunkene gesehen, als ihr zählen könnt’. Aber ich hab noch nie einen gesehen, der so blau war, dass er nich’ mal mehr das Lenkrad rumreißt. Ich weiß nich’. Der Gerichtsmediziner sagt, es war nen Unfall, und vielleicht war’s das auch. Is’ nicht mein Ressort, wisst ihr. Ich schätze, das is’ jetzt ne Sache zwischen ihr und dem Herrgott.«
»Wie betrunken war sie denn?«, fragte ich. »Haben Sie einen Test gemacht?«
»Ja. Sie hatte 1,2 Promille. Das is’ auf jeden Fall betrunken. Das is’ ziemlich betrunken.«
»War da was im Auto?«, fragte der Colonel. »Irgendwas Ungewöhnliches oder so?«
»Ich erinner’ mich, dass da Prospekte von Unis waren – Colleges in Maine und Ohio und Texas – ich hab noch gedacht, das Mädel muss aus Culver Creek sein, und dass das ne traurige Sache war, ein Mädel so zu sehen, das einen Platz an der Uni hat. Schlimme Sache. Und Blumen hatte sie dabei. Auf’m Rücksitz hatte sie Blumen. So was vom Blumenladen. Tulpen warn’s.«
Tulpen? Die Tulpen, die Jake ihr geschickt hatte. »Waren es weiße?«, fragte ich.
»Ja, ganz genau«, antwortete der Polizist. Warum hatte sie bloß die Tulpen mitgenommen? Doch diese Frage hätte uns der Polizist auch nicht beantworten können.
»Hoffe, ihr findet, wonach ihr sucht. Ich hab auch schon drüber nachgedacht. So was hab ich noch nich’ erlebt. Hab lange drüber nachgedacht, mich gefragt, ob, wenn ich den Streifenwagen noch schnell angeschmissen und weggefahren hätte, ob’s dann vielleicht nich’ passiert wär’. Vielleicht hätt’ ich noch genug Zeit gehabt. Aber das kann man jetzt nich’ mehr wissen. Für mich spielt’s keine Rolle, ob’s ’n Unfall war oder nich’. So oder so isses ne fürchterlich schlimme Sache.«
»Da ist bestimmt nichts, was Sie hätten tun können«, sagte der Colonel sanft. »Sie haben getan, was Sie konnten. Vielen Dank.«
»Na gut. Danke. Also dann, passt auf euch auf und sagt mir Bescheid, wenn ihr noch Fragen habt. Hier is’ meine Karte, wenn ihr noch was braucht.«
Chip steckte die Karte in seinen Plastikgeldbeutel, und wir machten uns auf den Heimweg.
»Weiße Tulpen«, sagte ich. »Jakes Tulpen.
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