Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
oder einem anderen Menschen – nur Dir, Dir, Dir, Du brauchst nur zu kommen und es Dir zu nehmen. Zu jeder Stunde, da Du kommst und mich aufforderst, werde ich Folge leisten. Wann immer Du kommen wirst, um mich ganz oder einen Teil von mir zu holen, werde ich stehenden Fußes bereit sein, werde keinem anderen Mann außer Dir folgen. Mutter will stören. Sie wird nicht stören können. Keiner wird stören können. Und falls Du von mir gehen solltest, werde ich Dich trotzdem immer weiter lieben. Ich werde nicht weinen, aber traurig sein, und ich werde Dich rufen und auf Dich warten, immerzu werde ich auf Dich warten, niemals Deiner überdrüssig werden. Ich werde Dich ermorden und Dich lieben und Dich unaufhörlich zur Rückkehr aufrufen. Jetzt bin ich ja hier, in meinem Zimmer, lebe aber gleichzeitig auch an anderen Orten, an jedem Ort, an dem Du Dich befindest, in jeder Straße, in der ich mal mit Dir war oder mit Dir seinwerde. Dieses Zimmer hier kenne ich von Kindheit an. Darin bin ich aufgewachsen. Aber erst seitdem ich Dich kennengelernt habe, gefallen mir die weißen Wände, die Decke und die Möbel und jede Ecke. Du hast mein nettes Zimmer noch nicht gesehen. Du weißt nicht, dass mein Bett Messingknäufe hat, dass der eine Stuhl wackelt und die Kleiderschranktür manchmal klemmt und sich nicht abschließen lässt. Aber trotzdem bist Du immer hier, sitzt mir gegenüber auf dem Stuhl oder gehst im Zimmer auf und ab, rauchst, lachst, und wenn ich meine Kleider ausziehe, stehst Du dabei und schaust mich lächelnd an. Ich schäme mich überhaupt nicht vor Dir. Du streichelst meine Brust und meinen Bauch und meine Schenkel und meinen Rücken, und Du überhäufst mich mit Küssen am ganzen Leib und unter den Achselhöhlen und hinter den Ohren. Ich würde gern all meine Kleider ausziehen, um völlig nackt für Dich zu sein, damit Du mich so siehst, wie ich bin, wie ich Dich liebe. Ich habe keine Scham, weil ich vor Dir keinen Makel habe, ich bin ja ein Teil von Dir, von Deinem Wesen – und hast Du Scham vor Dir selbst? Ich möchte, dass Du bald kommst und ich Dich lieben kann als Frau, als Geliebte, mit meinem ganzen Körper, der nach Deiner Berührung fiebert, der bebend nach Deinem Körper verlangt.«
Ernas Gesicht war erhitzt vor Aufregung, und ihr Herz klopfte rasend. Sie las noch einmal, was sie in ihrer ausholenden, etwas verschnörkelten Schrift geschrieben hatte, die Schwung und Entschlossenheit ausdrückte und noch etwas Schulmädchenhaftes hatte. Ein kleines, vergnügtes Lächeln kam ihr bei der Lektüre ihres ungestümen Geständnisses. Als sie damit fertig war, lehnte sie sich zurück und blieb eine Weile reglos sitzen. Dann stand sie auf und streckte den Rücken. Sie riss das beschriebene Blatt in winzige Fetzen und warf sie aus dem Fenster. Blickte den Schnipseln nach, die in alle Richtungen durch die Luft flatterten,sich ohne Hast zerstreuten und zum Teil im Wipfel des Baums vor dem Fenster verschwanden. Sie kehrte an den Tisch zurück und schrieb auf ein Stück Papier, ohne Anrede und Unterschrift: »Morgen, um vier. Erwarte mich in dem Café, in dem wir heute waren. Ich werde versuchen zu kommen, wenn Mutter mir kein Hindernis in den Weg legt.«
Sie steckte den Zettel in einen Umschlag und trat behutsamen Schritts auf den Flur, schlich zum anderen Ende und öffnete Rosts Zimmertür. Mit katzenhafter Geschmeidigkeit sprang sie, ohne Licht anzuschalten, hinein, legte den Umschlag auf den Tisch und glitt wieder hinaus.
Die Ferienzeit brach an, heiße, sonnengelbe Tage, klar wie reines Wasser und auch ein wenig schläfrig, ohne das leiseste Lüftchen. Erna wurde in die nächste Klasse versetzt. Die Stifts bereiteten sich auf die Fahrt in die Sommerfrische in zwei Tagen vor. Gertrud war jetzt fast dauernd nervöser Stimmung, ließ ihre Laune an Erna aus, tadelte sie mit oder ohne Grund, verfolgte jede ihrer Bewegungen, hatte an allem, was sie tat, etwas auszusetzen, als sei sie verpflichtet, ihre Tochter rundum zu beaufsichtigen, ihre Haltung im Sitzen und Stehen ebenso zu kritisieren wie ihre Tischsitten, ihren Sprachstil und ihr Schweigen. Erna konnte ihr rein gar nichts recht machen. All ihr Tun ging der Mutter auf die Nerven, bis sogar der Vater, an sich nicht mit großer Beobachtungsgabe begnadet, es bemerkte und seine Frau, in Ernas Abwesenheit, auf ihr merkwürdiges Verhalten aufmerksam machte. Gertrud verwarf seine Fürsprache jedoch mit ein paar kurzen Sätzen über die Veränderungen zum
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