Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
können. Diese ganzen wirren Gefühle und Gedanken verstrickten sich nun abgerissen und wild durcheinander,ohne jede vernünftige Ordnung, zu einem komplizierten Knäuel, dessen hervorstechendes Merkmal aufkeimender Hass war.
»Ich möchte gern wissen, wie du Rost begegnest, wenn du zu Friedel gehst?«, fauchte sie und blickte Erna durchdringend an.
»Zufall«, log Erna fast im selben Tonfall wie Rost, ohne es zu merken. Aber Gertruds geschärften Sinnen entging dieser Umstand nicht. Sie spricht schon wie er, schoss es ihr durch den Kopf.
»Wie dem auch sei«, bemühte sich Gertrud um einen ruhigeren Ton, »ich wünsche, dass du dich nicht mehr mit ihm triffst.«
»Warum nicht?«, fragte Erna.
»Weil ich es nicht will.« Worauf sie sofort anfügte: »Ich wünsche, dass du dich nicht mit ihm anfreundest.«
»Speziell mit ihm willst du es nicht?«, fragte Erna mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Er ist kein passender Umgang für dich.«
»Und für dich?«
»Was für mich?«
»Du unterhältst dich doch auch mit ihm und siehst nichts Unrechtes darin.«
»Das ist nicht vergleichbar«, entgegnete Gertrud mangels konkreter Gründe, »du bist noch ein kleines Mädchen.«
»Erstens bin ich kein kleines Mädchen mehr, und zweitens bin ich deine Tochter. Ein Umgang, der für die Mutter passt, passt auch für die Tochter, nicht wahr?!«
»Was für einen frechen Ton du anschlägst«, ereiferte sich Gertrud, »ich kenne dich ja gar nicht mehr wieder!«
»Das ist kein frecher Ton.« Erna ließ sich nicht aus der Reserve locken. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, die Stärkere zu sein, und war innerlich ganz ruhig. »Der gesunde Menschenverstand entscheidet. Wenn du mir den Umgangmit jemandem verbietest, musst du die Sache begründen.«
»Ich muss gar nichts, du bist ein junges Mädchen und verstehst noch nichts. Ich sage dir, ich will es nicht – und das reicht!«
»Schön! Aber mir reicht es ganz und gar nicht.« Erna setzte sich wieder auf ihren Platz am Fenster.
Im Zimmer war es schon dämmrig geworden. Gertrud stand auf, um den Lichtschalter an der Tür zu betätigen. Das goldgelbe Licht, das sich mit einem Schlag im Raum ergoss, blendete die Augen. Gertrud blieb neben Erna stehen. »Du musst dich deinen Hausaufgaben widmen und sie nicht auf die leichte Schulter nehmen, besonders jetzt vor den Prüfungen. Das ist deine Aufgabe, und nicht, deinen Geist mit müßigen Dingen zu beschäftigen.«
»Ich nehme die Hausaufgaben nicht auf die leichte Schulter, und bei den Prüfungen werde ich nicht durchfallen, da brauchst du keine Angst zu haben, aber du hast mir immer noch nicht erklärt, warum ich die wilde Flucht ergreifen soll, ohne zu grüßen oder eine Silbe zu sagen, wenn ich Rost begegne.«
»Ich habe nichts zu erklären und will nichts erklären. Ich will nicht, dass du dich mit ihm triffst, verstanden?«
Erna antwortete nicht. Sie wandte das Gesicht ab und sah aus dem Fenster. Ein Falter sirrte vorbei und schlug immer wieder an die Glühbirne aus mattem Glas, die er stur umkreiste. Sie wollte diese Diskussion nicht in die Länge ziehen: Sie ist im Unrecht, absolut im Unrecht! Sie kannte den eigentlichen Beweggrund für dieses plötzliche Verbot, er ließ sich unschwer erraten. Die ganze Diskussion war ihr unangenehm, als betaste man mit derben Händen einen ihr sehr wertvollen, feinen Gegenstand. Künftig sollte sie sich besser in Acht nehmen, nicht zulassen, dass man ihn mit Dreck bewarf. Jedenfalls hatte Gertrud es fertiggebracht,ihr die gute Laune ein wenig zu trüben und ihren Widerstand und Groll zu wecken. Und als Gertrud sie ein paar Minuten später aufforderte, sich für einen Spaziergang mit ihr anzuziehen, schürzte sie Kopfschmerzen vor und kam nicht mit, und die Mutter drängte sie nicht übermäßig.
Erna zog sich in ihr Zimmer zurück. Es war noch früh. Eine Weile blieb sie tatenlos am Fenster sitzen. Der stille, erfrischende Abend flößte ihr langsam Ruhe ein. Nur in einem verborgenen Winkel ihrer Seele glühte ein Gefühl wie ein mit der Hand abgeschirmtes Licht, ein Sinnen hin auf das Zimmer am Ende des Flurs, auf die Straßen der Stadt allesamt, in deren einer er sich jetzt befand.
Sie nahm einen weißen Bogen Papier und schrieb hastig: »Immer wusste ich, dass Du mal kommen würdest. Immer war ich bereit, Dich willkommen zu heißen, nur wusste ich nicht, dass Du jetzt kommen würdest und in dieser Gestalt. Fortan gehört nichts an mir, weder Körperliches noch Seelisches, mehr mir
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