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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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man eine junge Blondine, die abwechselnd auftauchte und wieder verschwand.
    Dort irgendwo ist er, dachte sie, ist da für mich, sitzt oder geht oder isst oder redet mit seinen Freunden, ist aber da, greifbar. Seine Freunde waren ihr auch lieb und teuer, jeder, der mit ihm in Berührung kam, war ihr wichtig, weil er etwas von ihm aufgesogen hatte, weil ein Quäntchen von ihm auf ihn übergegangen war. Unwillkürlich stand sie auf und ging ans Klavier in der Ecke, fuhr im Stehen ein-, zweimal mit den Fingern über die Tasten. Dann machte sie eine halbe Drehung auf einem Absatz und stand nun mit dem Gesicht zum Zimmer, hinter ihrer Mutter, die sich immer noch nicht von ihrem Stuhl am Esstisch erhoben hatte. In einem Anfall überbordender Liebe schlang sie ihr die Armeum den Hals, drehte ihren Kopf etwas nach hinten und überhäufte sie mit Küssen auf Wangen und Stirn, genau wie sie es vor nicht allzu langer Zeit im Volksgarten bei Rost getan hatte.
    »Hör auf !«, rief die Mutter gereizt und befreite sich mit einer hastigen Bewegung.
    »Du bist eine schöne Frau, Mutter«, rief Erna begeistert, »eine große Schönheit.«
    Aber Gertrud war jetzt nicht dazu aufgelegt, den Überschwang ihrer Tochter mitzumachen. Mit einem Schlag kam ihr dieses junge Mädchen fremd vor. Sie drehte sich um und musterte sie einen Moment schweigend, den Blick nicht frei von einer Spur Feindseligkeit. In diesem Augenblick gab sie sich keine klare Rechenschaft über dieses neue Empfinden, spürte es nur vage in sich wachsen. Dabei musste sie zugeben, dass sie schön war, die Erna, bildschön. Mit unwiderstehlichem Charme begnadet. Nein, sie war kein kleines Mädchen mehr, ihr süßes Kindchen, vor ihr stand eine erwachsene, schöne, fremde Frau, gerüstet mit gefährlichen Waffen, eine Rivalin, die nicht zu unterschätzen war. Gegen sie ins Feld zu ziehen wäre keine leichte Aufgabe, und der Sieg wäre nicht garantiert. In diesem Augenblick hätte Gertrud es lieber gesehen, wenn ihre Tochter hässlich gewesen wäre, mit einem Gebrechen, einer Krankheit behaftet.
    Gertrud war vielleicht nicht von Natur aus böse oder grausam, aber das Gefühl der Unterlegenheit begann an ihr zu zehren. Sie war erst siebenunddreißig Jahre alt, in den besten Jahren, ohne auffällige Alterserscheinungen, aber die Angst hatte sich schon in ihr Herz geschlichen, die Angst vor dem unaufhaltsamen Altern, vor dem es kein Entrinnen gab. Diese Angst war zwar noch nicht offen und spürbar bei ihr eingesickert. Es waren nur leichte, recht seltene Angstzustände, zuweilen wegen einer leichten Mattigkeit nach dem Essen oder einem Anflug von Erschöpfungnach einem zweistündigen Fußmarsch, die gar nicht zwingend auf diesen Grund zurückgeführt werden mussten. Sie steckte immer noch voller Schwung, strotzte von unvermindertem Lebenshunger, war sich jedoch gewiss, sinn- und lustlose Jahre hinter sich zu haben, triste, eintönige Jahre an der Seite ihres langweiligen, mittelmäßigen Gatten, der nicht mal ihre Weiblichkeit zu entfachen wusste, unwiederbringlich verlorene Jahre. Denn abgesehen von ein paar kleinen, unwichtigen Abenteuern, die ihren Namen kaum verdienten, ihr lediglich zur Zerstreuung gedient hatten, als kleine Abwechslung von der alltäglichen Langeweile, waren diese Jahre ja wie eine lange, öde Wüste vergangen. Seinerzeit, als sie sie durchlebte, war ihr deren Nichtigkeit gar nicht bewusst gewesen, abgesehen vielleicht von einer vagen Unzufriedenheit, einem wiederkehrenden Heißhunger nach etwas Unbekanntem. Ihr bisheriges Leben war ihr erst dann richtig klar geworden, als sie Rost kennenlernte, als sie erkannte, welche Vielfalt an Farben, an Verzweiflung, an Ängsten, an unendlichem Glück ein einziger Tag, ja sogar eine einzige Stunde zu bergen vermag, unermessliches Glück. Und nun, wo sie erst begonnen hatte, dies alles zu empfinden, die Tiefe dieses herrlichen Lebens auszukosten, spürte sie bereits, dass er ihrer müde wurde. Er schien ihr aus den Fingern zu gleiten. Nein! Sie würde es nicht zulassen! Und koste es ihr Leben! Und die da, Erna, ihr eigen Fleisch und Blut, sollte ihr so was antun! Man würde ja noch sehen, wer die Stärkere war! Denn irgendwie überkam sie die intuitive Gewissheit, die keiner Beweise bedurfte, dass sich zwischen Erna und Rost etwas anbahnte, und sie war fest entschlossen, das mit allen Mitteln zu verhindern. Den Hauptgrund, die Eifersucht, hatte sie sogar schon etwas vertuschen und durch andere Gründe ersetzen

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