Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
ihr Zimmer, wenn Besuch kam, auch immer blitzsauber ausgesehen.
Allerdings wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihre Mutter neben Jonathan saß und mitlas. Und dass sie der eigentliche Grund für den Schriftwechsel war. Vielleicht sollte Anna ihm ein eigenes Mailfach einrichten? Eines, an das nur er konnte? Er war noch ein bisschen jung dafür, doch er wurde bald zehn, und hatten die Kinder in dem Alter nicht alle schon eigene Mail-Adressen?
Von: Anna Wagner
An: Conny Dressler
Betreff: AW : RE : AW :
Lieber Jonathan,
eine Geschichte über Roboter werde ich bestimmt schreiben, das können wir doch zu Weihnachten gemeinsam tun, was meinst Du? Und ich habe mir auch gerade überlegt, dass wir beide uns ein Märchenschloss bauen könnten. Mit Robotern und allem Drum und Dran. Ich freue mich schon sehr darauf, bald ist es ja so weit.
Ich werde am 23 . 12 . so etwa um acht Uhr abends bei Euch sein, wenn der Zug keine große Verspätung hat.
Aber jetzt schnell ins Bett mit Dir, jetzt heißt es nur noch fünfmal Schlafen, und dann kommt der Weihnachtsmann.
Ein dickes Küsschen von Deiner Anna
Nachdem sie die inzwischen angekommene kurze Antwort von Paula auch noch gelesen hatte, schaltete sie den Computer aus und legte sich aufs Bett. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich dieses Jahr tatsächlich in den Weihnachtsstress begeben würde! Aber Gerd den Gefallen tun, nicht zu kommen, wollte sie auf keinen Fall. Sie würde mit Jonathan feiern, irgendwie, und vielleicht sogar schöner als in den Jahren, an die sie sich nicht so gern erinnerte.
3. KAPITEL
M it der Zusage, zu Weihnachten in Berlin zu sein, ergab sich für Anna allerdings ein Problem: Sie musste Weihnachtsgeschenke kaufen. Last-Minute-Shopping anstelle Last-Minute-Urlaub. Bisher hatte sie immer kleine Gutscheine an ihre Familie geschickt, aber das würde bei persönlichem Auftauchen nicht reichen. Außerdem würde sie direkt mit den Reaktionen ihrer Familienmitglieder konfrontiert sein. Bei Gerd war ihr das egal, bei ihrer Mutter aber schon weniger und überhaupt nicht egal war ihr Jonathan.
Also packte sie sich am nächsten Morgen in Stiefel, Schal und Wintermantel und stapfte tapfer zur Straßenbahn. Wie schlimm konnte der Erwerb von Weihnachtsgeschenken schon werden? Die warnenden Bilder aus früheren Zeiten drängte sie zurück, und sie ignorierte auch die schlechte Laune, die andere Kaufwillige an der Haltestelle verströmten.
Während die Straßenbahn in Leipzigs Zentrum zuckelte, erinnerte sich Anna daran, wie gern sie früher mit ihrer Mutter die Weihnachtseinkäufe getätigt hatte. Ihre Mutter hatte immer so getan, als bemerke sie das Stück Seife oder das Halstuch, das Anna ihr »heimlich« von ihrem Taschengeld kaufte, nicht.
Damals war auch ihr richtiger Vater noch da gewesen, Thomas, der sich später einfach aus dem Staub gemacht und sie beide sitzengelassen hatte. Sein Verschwinden hatte Anna schon sehr getroffen, und mit dem neuen Mann, Gerd, war dann alles anders und irgendwie schlimmer geworden. Jonathan kam zur Welt, und auf einmal drehte sich alles um ihn. Nur wenn es darum ging, an ihr herumzukritisieren, kehrte sie bei ihrer Mutter und bei Gerd ins Bewusstsein zurück.
Aber das drängte Anna beiseite, als die Straßenbahn hielt und ihre einkaufswillige Fracht ausspuckte.
Natürlich, da war sie wieder, die Weihnachtsmusik. Sofort griff sie nach Anna, zerrte an ihren Ohren und versuchte, sie zum Weihnachtsmarkt zu locken. Anna beeilte sich, zum Kaufhaus zu kommen. Kurz davor blieb sie stehen und sah zu dem Gebäude auf, das über und über mit glitzernder Deko geschmückt war. Bedrohlicher konnte auch ein menschenfressendes Ungeheuer für sie nicht aussehen. Und da, formte es nicht eine Fratze aus leuchtenden Fenstern und einem mehrzahnigen Türenmund, der schon von weitem Verderben versprach?
»Nun stehn Se doch nich in der Gegend rum!«, blaffte ein Rentner sie an, weil er genötigt war, um sie herumzugehen.
Aha, das war sie also, die friedliche Stimmung zu Weihnachten. Nicht mal die Rentner hatten Zeit für ein wenig Besinnlichkeit.
Anna atmete tief durch, dann ging sie voran und trat mutig durch den Türschlund, wo ihr nach Durchqueren der Wärmeschleuse sofort das schwere Duftgemisch der Parfümerie entgegenschlug, die sich irgendwo weiter hinten neben Taschen und Schreibwaren befand.
Dank ihrer Ideenlosigkeit entpuppte sich der Einkaufsbummel rasch als das, was Anna befürchtet hatte: nervig hoch drei.
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