Eine zweite Chance
nicht zu fragen wagte, falls kein anderer als er es bemerkt hätte. Die Tage vergingen, aber irgendetwas fehlte. Die Routine im Alltag. Alle Abläufe wurden aufgelockert, und nichts war mehr vorhersehbar. Sie lag da in ihrem Bett, wenn er von der Schule kam, sein Vater war noch zerstreuter als üblich und verzog sich in sein Arbeitszimmer. Anders sehnte sich nach dem Tag, an dem alles wieder so sein würde wie zuvor.
Er erinnerte sich an den Augenblick, als sich der erste Riss in den trügerischen Worten gezeigt hatte, mit denen sie ihn immer beruhigte. Eine einfache Frage danach, was es zum Abendessen geben würde.
Als er älter wurde, hatte er gedacht, dies sei der Moment gewesen, an dem ihre Angst überhandnahm. Ein neunjähriger Junge mit einem Vater, der Kenntnisse über subatomare Teilchen hatte, sich aber nur notdürftig auf Kochrezepte verstand.
Seine Frage war so unschuldig gewesen. Er hatte sich eigentlich nicht für die Antwort interessiert, er wollte nur etwas sagen, was er gewöhnlich sagte, etwas, was zur Normalität gehörte. Die Sprengkraft seiner Worte hatte er nicht vorhergesehen. Denn statt zu antworten, sah sie ihn mit einem Blick an, den er noch nie gesehen hatte, und dann bat sie ihn mit einem fauchenden Atem, seinen Vater zu holen. Anders eilte die Treppe hinunter und fand ihn tief versunken in seinem Lesesessel.
»Mama will, dass du kommst.«
Er erhob sich sofort und eilte die Treppe hinauf, um jäh an der Schlafzimmertür stehen zu bleiben. Das Gesicht in den Händen verborgen saß sie an ihre Kissen gelehnt und weinte. Aus dem Augenwinkel registrierte er die Reaktion seines Vaters, und auf einmal wurde das offenbar, was er eigentlich schon immer gewusst hatte – von ihm war keine Hilfe zu erwarten, auf ihn konnte er sich nicht stützen. Sein Vater war genauso erschrocken wie er, und Anders wurde von einer Angst befallen, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Die Welt war ein gefährlicherer Ort, als sie gesagt hatten, und es gab nichts, was ihn schützen konnte.
»Anders, kannst du für eine Weile in dein Zimmer gehen, ich muss kurz mit deinem Vater reden.«
Mit klopfendem Herzen zog er sich zurück, aber statt zu gehorchen, ging er in das Badezimmer und drückte sein Ohr an die Wand. Alles, was er hörte, waren die eigenen Herzschläge, im Schlafzimmer war es still geworden. Dann hörte er sie sprechen.
Ingvar, es ist kein Essen im Haus, und dein Sohn ist hungrig. Wie kommt es, dass du jeden Tag vergisst, dass wir essen müssen?
Wieder wurde es still, und nach einer Weile kam ihre Stimme zurück, diesmal vom Weinen verzerrt und leiser, deshalb konnte er nicht richtig verstehen, was sie sagte. Das redete er sich wenigstens hinterher ein, als er wünschte, er hätte es nicht gehört.
Versprich mir, Ingvar, wenigstens dafür zu sorgen, dass er etwas zu essen bekommt. Es ist an der Zeit, dass du übernimmst, denn ich schaffe es jetzt nicht mehr.
An diesem Abend aßen sie Fleischwurst. Fleischwurst und Makkaroni, die sein Vater zubereitet hatte. Nicht wissend, wie oft er in Zukunft Fleischwurst und Makkaroni bekommen würde, lobte Anders seine Kochkunst. Sein Einsatz war ja nur vorübergehend, es war gut, dass er mehr Verantwortung übernahm, jetzt, da seine Mutter so müde war. Bald würde alles wieder so sein wie immer.
Sie hatte ihm ja versprochen, gesund zu werden.
Eine Stunde und zwanzig Minuten, nachdem die Röntgenuntersuchung abgeschlossen war, befand sich Anders wieder auf der graden Straße, auf der er sich am Tag zuvor dem Schicksal überlassen hatte. Von der Dramatik des Unfalls waren keine Spuren zu sehen, der Ort war wieder ein unansehnliches Stück Autobahn. Würden ihn nicht die Kopfschmerzen plagen, hätte er sich einreden können, dass der Unfall nie passiert wäre.
Gegen den Rat der Ärzte hatte er das Krankenhaus verlassen. Das Schädelröntgen war gut verlaufen, wenn man mit gut nun meinte, dass man nichts gefunden hatte. Aber da kein Angehöriger ihn abholen und beaufsichtigen konnte, war der Arzt der Ansicht, er solle noch eine Nacht bleiben. Anders hatte versprochen, ein Taxi direkt zum Bahnhof von Sundsvall zu nehmen und in den Zug nach Stockholm zu steigen, wo er sofort seinen Arzt kontaktieren würde. Er hatte ein kleines Kuvert mit vier Schmerztabletten gegen die Kopfschmerzen auf der Reise und eine ausführliche Information über die Symptome erhalten, die zu erwarten waren. Danach hatte er sich bedankt und verabschiedet und hatte sich mit dem Taxi
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