Eine zweite Chance
folgte, haben wir es verkauft. Ich habe mich immer nach dem Familienhof gesehnt.« Sie ging zum Fenster und schaute zu ihrem Haus hinüber. »Ich weiß nicht, warum wir überhaupt von dort weggezogen sind. Es wurde nie geradeheraus gesagt, aber ich glaube, Mutter und Helga vertrugen sich nicht besonders. Vater war es wohl leid, immer dazwischenzugeraten.« Sie trank den Rest ihres Kaffees und ging zur Geschirrspülmaschine. »Wir werden das Kaffeetrinken nach dem Begräbnis wohl hier bei dir veranstalten. Es findet wohl schon am Freitag statt.«
»Das geht in Ordnung.«
»Wir werden das Beerdigungsunternehmen irgendwann in dieser Woche besuchen. Lasse wollte den Termin machen, und er rechnet wohl wie üblich damit, dass ich kann, wenn es ihm passt.« Sie ging hinaus in die Diele und zog sich die Stiefel an. »Brauchst du etwas aus der Stadt?«
Helena sah auf ihre To-do-Liste.
»Neue Sicherungen für den Sicherungskasten. Nimm ruhig vier Packungen mit zwanzig Ampere. Sie fliegen die ganze Zeit raus, wenn es Minusgrade gibt, und du sagst ja, dass es wieder kalt werden wird.«
Anna-Karin nickte. »Da kannst du sicher sein. Wir haben noch nicht alles von diesem Winter gesehen. Bald werden wir wieder Schnee schippen müssen.«
Als Anna-Karin gegangen war, blieb Helena sitzen. Es gab so vieles, was sie zu tun hatte, dass es einfacher war, sitzen zu bleiben.
Während der ersten Monate, nachdem Martin ausgezogen war, hatte sie manchmal für ein paar Sekunden vergessen, dass er weg war. Spontane Gedanken wie Wenn Martin nach Hause kommt, werden wir das anpacken … gingen ihr durch den Kopf, bis ihr einfiel, dass er nie mehr nach Hause kommen würde. Das Gefühl der Einsamkeit war in diesen Momenten so verzehrend geworden, dass sie ihren Hass für eine Weile vergessen hatte.
Aber geweint hatte sie nicht.
Sie hatte sich nach einem Martin gesehnt, den es nicht mehr gab, als sei der, der am Leben war, ein Trugbild des richtigen. Ihr war der Gedanke gekommen, dass es einfacher sei, wenn er tot wäre, wenn sie um den trauern könnte, der weg war, statt sich zu fragen, wo er geblieben war. In ihren Erinnerungen hatte sie nach Hinweisen gesucht, wann genau er sich so sehr verändert hatte. Doch es musste schleichend passiert sein. Die Idee mit dem Hotel war ihr gekommen, als sie müde und resigniert von ihrem Alltag gewesen waren, sie hatten sich beide nach Veränderung gesehnt und nach einer Art Ruhe, von der sie glaubten, sie sei auf dem Land leichter zu finden. Das Leben in Stockholm bestand überwiegend aus Stress. Sowohl sie und Martin hatten Vollzeit gearbeitet, oft mehr als das. Als Emelie geboren wurde, hatten sie sich die Elternzeit geteilt, bevor es Zeit für die Kita wurde. Danach war das Leben ein ewiges Puzzle aus Arbeitszeit, Abholen und Bringen, Kochen und Freizeit gewesen und, als Emelie dann in der Schule angefangen hatte, aus Hausaufgaben und Elternabenden. Der Traum war es, über sich selbst bestimmen zu können. Sich keinen Arbeitszeiten mehr unterwerfen zu müssen. Ihr Bekanntenkreis hatte sie um ihren Aufbruch beneidet und sie als mutig bezeichnet. Dass sie Kontakt halten würden, war selbstverständlich, einige hatten sie besucht, doch wenn die Freunde Urlaub hatten, war bei ihnen ja Hochsaison. Jetzt mailte man sich meist nur noch Weihnachtsgrüße. Nur ein paar vereinzelte Freunde waren übrig geblieben, und jetzt, da sie jemanden wirklich gebraucht hätte, wusste sie nicht mehr, wen sie anrufen sollte.
Vielleicht hätten Martin und sie gründlicher darüber nachdenken sollen, was sie suchten, bevor sie von dem aufgebrochen waren, was sie verlassen wollten. Widerwillig hatte sie sich eingestehen müssen, dass die meisten Sorgen geblieben waren, obwohl die Umgebung eine andere war.
Sie stand auf und ging zum Gefrierschrank, um eine Tüte mit Brötchen herauszuholen. Sie würden aufgetaut sein, bis Emelie nach Hause kam. Helena hatte sich entschlossen, sie in das Gesellschaftszimmer zu locken, wo die Gäste gewöhnlich ihren Kaffee tranken. Sie hatten es mit antiken Sitzgruppen ausgestattet, die um kleine Tische herum gruppiert waren. Entlang der Wände hatten sie Regale gebaut und sie mit Büchern gefüllt. Helena selbst fand, dass es der gemütlichste Raum im Haus war. Heute Nachmittag würde sie im Kamin ein Feuer brennen lassen, all die kleinen Teelichter anzünden und heiße Schokolade zu den Brötchen machen. Ihre Pflichten würde sie vergessen und stattdessen versuchen, ein Gespräch in Gang
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