Eine zweite Chance
zu bringen, um möglicherweise einen Einblick in Emelies Gedanken zu bekommen, von denen sie mittlerweile nichts mehr wusste. Ihr fehlte die enge Verbindung, die sie früher gehabt hatten und die nun plötzlich verschwunden war.
Mit der Brötchentüte in der Hand wurde sie mit einem Mal von einer Unlust erfüllt, die sie oft überkam, sobald sie innehielt. Emelie war das Wichtigste, sie war bereit, alles für sie zu tun, und trotzdem plagte sie ständig ein schlechtes Gewissen. Das Gefühl, alles, was sie tat, sei nie genug. In den Jahren als Mutter hatte sie sich manchmal gefragt, wie viele Menschen es noch wagen würden, Kinder zu bekommen, wenn sie zuvor schon ganz und gar begriffen hätten, was das wirklich bedeutete. Von dem Augenblick an, als sie Emelies erste, schmetterlingshafte Bewegungen gespürt hatte, hatte sie instinktiv verstanden, dass das Leben sich veränderte, dass etwas Größeres heranwuchs und Form annahm, als sie es bis dahin gekannt hatte. In dem Moment, in dem sie dem Blick des rätselhaften Wesens begegnet war, das sich aus ihrem Körper herausgepresst hatte, hatte sie gelobt, die Mutter zu werden, die ihre eigene nicht zu sein vermocht hatte. Die Liebe, die sie empfand, war unendlich, ungetrübt, sie liebte ihr Kind, wie sie noch nie zuvor jemanden geliebt hatte.
Alles wäre sie bereit zu tun, und auf alles würde sie verzichten wollen.
Ihre Tochter sollte niemals die Verantwortung dafür übernehmen müssen, ob das Essen auf dem Tisch stand, sich in der Nacht ängstigen, weil die Mutter weg war, oder Erbrochenes neben ihrem Bett aufwischen. Niemals Ausreden für Nachbarn und Lehrer zusammenlügen oder die Wäsche der Familie im Waschbecken waschen. Niemals vor einem halb angezogenen Fremden am Frühstückstisch Angst haben und zugleich zu Gott beten, dass er bleiben würde, wenn es nur die Mutter froh machte. Niemals am Esstisch von Schulkameraden sitzen und so tun wollen, als sei es ihre eigene Familie.
Als Mutter würde sie die Chance bekommen, alles besser zu machen. Diesmal würde es gut werden, sie und Martin würden für Emelie da sein und zusammen eine normale Familie bilden.
Das war das Versprechen, das sie ihrer Tochter an dem Tag gegeben hatte, an dem sie geboren worden war, und das sie hoch und heilig gelobt hatte, niemals zu brechen.
Kapitel 7
Am 8. November des Jahres 1895 befand sich Professor Wilhelm Conrad Röntgen in seinem Laboratorium an der Universität von Würzburg. Ohne etwas von seinem zukünftigen Ruhm zu wissen, hatte er seit einiger Zeit das Phänomen elektrischer Ladungen studiert. An diesem regnerischen Abend kam ihm die Idee, eine Leuchtröhre in lichtundurchlässiges Papier zu verpacken. Er konnte kaum ahnen, dass dieser Einfall die medizinische Wissenschaft revolutionieren und ihm den Nobelpreis für Physik einbringen würde. Als er die Röhre mit Elektrizität verband, flimmerte es auf einem fluoreszierenden Schirm vor ihm auf. Von Wissbegier getrieben, hielt er die Hand vor die Strahlen und erblickte zu seiner Überraschung sein eigenes Skelett. Damit waren die X-Strahlen entdeckt, die später umbenannt wurden, um für immer seinen Namen zu tragen.
Darüber dachte Anders nach, als er 115 Jahre später in der Röhre lag, dem Resultat dieser Erfindung. Er war mittlerweile der Besitzer des Stifts, den der Professor zur Niederschrift seiner Entdeckung benutzt hatte, und hatte sich deshalb mit dem Thema beschäftigt.
Schicht für Schicht wurde sein Gehirn untersucht, und für einen Augenblick lang wurde er von einem Gedanken befallen, der ihm Angst bereitete. Nicht die Angst davor, dass der brummende Apparat eine Schwellung oder Blutung enthüllen würde, sondern vielmehr vor dem Risiko, dass er seine Gedanken registrieren könnte. Er versuchte, mit dem Denken aufzuhören, aber natürlich gelang ihm das nicht. Woraus waren sie gemacht, diese Gedanken? Waren sie genauso handgreiflich in ihrer Existenz wie die Bestandteile, die man seit Wilhelm Conrad Röntgen fotografieren konnte? Wo im Körper befand sich das Bewusstsein, und wo würde es bleiben, wenn die Teile, die geröntgt werden konnten, wieder dem Kreislauf des Planeten übergeben wurden?
Gedanken dieser Art drängten sich in seinem Hirn, während es auf einem Monitor von Sachkundigen studiert wurde. Er hatte schon einen Mietwagen bestellt, fest entschlossen zu verschwinden, sobald die Untersuchung abgeschlossen war.
Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Umgeben von dem rotierenden Zylinder
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