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Eine zweite Chance

Eine zweite Chance

Titel: Eine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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schloss er die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Das surrende Geräusch war einschläfernd. Der Krankenhausgeruch hatte sich in seinem Körper eingenistet und war nicht mehr wahrzunehmen. Er ahnte jedoch, dass es dieser Geruch war, der die längst verdrängten Erinnerungen hervorgelockt hatte. Während der Nacht hatte sich ein Teil ans andere gefügt, Bilder aus vergangenen Zeiten waren mit einem Mal klar erkennbar.
    Er sah sich als neunjährigen Jungen, so ahnungslos gegenüber dem, was ihre zunehmende Erschöpfung für ihn bedeuten würde. Wie alle Krankheiten würde auch diese vorübergehen. So, wie sie es ihm versicherte, wenn sie atemlos und mit der Faust auf die Brust gedrückt versuchte, den Schmerz zu lindern. Wie hätte er es verstehen können? Ihre kleine Familie war seine Welt, eine absolute Selbstverständlichkeit, sie selbst war der Mittelpunkt seines Lebens, der die Welt in Ordnung hielt. Mit resoluten Schritten und festen Handgriffen packte sie das an, was getan werden musste, und mit nachsichtiger Zärtlichkeit ließ sie seinen Vater allein, wenn er sich abgeschirmt von der Wirklichkeit in seine Bücher über Quantenphysik vertiefte. Er war Lehrer für Mathematik und Physik, mit einem Interesse für diese Themen, das über das Notwendige hinausging. Jeden Morgen setzte sie ihn vor dem Gymnasium von Huskvarna ab, unterwegs zu ihrer eigenen Arbeit als Realschullehrerin. Damit er sicher dorthin findet, pflegte sie lächelnd zu erklären. Sie konnte über seine Zerstreutheit scherzen, ohne sich auf seine Kosten lustig zu machen. Eine Zuneigung, die selbstverständlich war. Anders sah sie selten streiten. Es war offensichtlich, dass ihr Vater von ihr abhängig war. Sie war der Anker, der ihn am Boden hielt und nicht erlaubte, dass er vollständig dem Mysterium der Quantenphysik entschwebte. Sein Vater versuchte, so gut er konnte, sich an den Alltagspflichten zu beteiligen, aber mit zwei linken Händen war er selten hilfreich, wenn etwas kaputt gegangen war. Im Gegenteil, nach seinen Versuchen musste oft mehr repariert werden als zuvor, und dann schämte er sich für seine Ungeschicklichkeit.
    Er war kein Vater, der Fußball oder Skifahren oder andere sportliche Betätigungen mochte, aber es kam trotzdem vor, dass er vorschlug, sie sollten etwas zusammen unternehmen. Anders machte es Spaß, solange kein anderer dabei war und zusah.
    Manchmal schämte er sich für die Unbeholfenheit seines Vaters, und das war ein Gefühl, das er nicht mochte. Denn was man nicht sah, wenn sein Vater über das Eis stolperte, war, mit welcher Brillanz er sich mit Schrödingers Wellengleichung, der Theorie vom Higgs-Boson und Heisenbergs Unschärferelation auskannte. Die Quantenphysik war eine Welt, von der Anders früh erkannte, dass sie unmöglich zu begreifen war, und es war schwierig, mit der Kompetenz seines Vaters anzugeben, wenn er sie selbst nicht verstand. Daher bat er seinen Vater einmal, sie ihm zu erklären.
    »Sieh mal, Anders, die klassische Physik folgt Newtons Gesetzen, die wir in der gewöhnlichen Welt anwenden können, welche wir um uns herum sehen, aber wenn wir auf das Niveau kommen, das kleiner ist als das Atom, stimmen sie plötzlich nicht mehr. Die Quantenphysik öffnet die Tür zu einer unbekannten Welt, da sie einer ganzen Menge von dem widerspricht, was wir bisher zu wissen glaubten. Zeit und Raum, das Grundlegendste, verlieren in der Welt der Quantenphysik auf gewisse Weise ihre Geltung.«
    Die Antwort machte Anders nicht klüger, und er verzichtete darauf zu fragen, wer Newton war.
    Seine ersten Erinnerungen an ihre Krankheit waren diffus. Anfangs erkannte er nicht die Gefahr, die über ihnen schwebte. Sie schaffte oft weniger als gewöhnlich und musste häufig innehalten und Atem holen, sie schlief mit einem Kissen im Rücken, um Luft zu bekommen. Aber bald würde sie wieder munter sein, versicherte sie ihm immer wieder, wenn ihre Kräfte nachließen. Seine naiven Kinderaugen sahen nicht die Angst, die sie empfunden haben musste, als ihre Herzschwäche nach und nach Nieren und Lunge beeinträchtigte und es ihr trotz ihrer Arztbesuche immer schlechter ging. Schließlich wurde sie krankgeschrieben. Eine Unruhe schlich sich ins Haus, doch anfangs erkannte er noch nicht den Zusammenhang mit ihrer Krankheit. Sie sagte ja immerzu, dass sie gesund werden würde. Trotzdem war sie öfter bettlägerig, außerdem begann es sonderbar zu klingen, wenn sie atmete. Ein röchelndes Geräusch, nach dem er

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