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Eine zweite Chance

Eine zweite Chance

Titel: Eine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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war.
    Es lag etwas in der Luft. Eine ängstliche Stille war eingekehrt. Die wortkargen Gespräche hielten sich auf einer praktischen Ebene, um das herum, was verlangt wurde, um ihre aufgezwungene Zweisamkeit funktionieren zu lassen. Fast stumm brachten sie die Mahlzeiten hinter sich, und danach ging jeder seiner Wege, ohne dass die Mutter mit einem Wort gestreift worden war. Von dem Augenblick an, in dem sie ihr Zimmer im Krankenhaus verließen, gab es sie nicht, und erst wenn es Zeit für den nächsten Besuch war, wurde sie wieder präsent. In der Zeit dazwischen musste das Thema vermieden werden, als würde ihre Abwesenheit zu schwer, wenn man sie auch noch mit Worten belastete. Eigentlich gab es so vieles, was er fragen wollte. Durch die Dunkelheit hindurch, die seinen Vater umschloss, wagte er es jedoch nicht, um Antworten zu bitten. Mittlerweile war sein Vater auch krankgeschrieben, aber Anders wusste nicht, auf welche Weise er krank war. Das Einzige, was er sah, war, dass die Hände zitterten, wenn er das Besteck hielt, und dass er andere Gerüche ausdünstete. Er hatte eine Seife gekauft, wusste aber nicht, ob der Vater sie benutzt hatte. Nachts hörte er Schritte im Haus, zwischen den Zimmern herumtrabend, als suchten sie nach etwas, das nicht mehr zu finden war.
    Anders half ihm bei dem, was getan werden musste, nichts geschah mehr von selbst. Manchmal fühlte sich sein Leben an, als sei es in kleine Stücke zerteilt worden, die er zusammenhalten musste. Für das, was früher wie von selbst ohne ihn geschehen war, trug er jetzt die Verantwortung. Wenn er den Vater nicht erinnerte, wurde vieles vergessen. Nach der Schule ging er direkt nach Hause und sagte immer Nein, wenn jemand mit ihm spielen wollte. War er nicht zu Hause, sorgte er sich immer, es war sicherer, mit eigenen Augen zu sehen, dass nichts passiert war.
    Seine Aufgabe war es, die Situation ein wenig zu erleichtern. Die eigene Unruhe wurde sorgfältig versteckt, sein Vater würde es vielleicht nicht verkraften, wenn Anders seine Traurigkeit zeigte. Zu jedem Preis musste sein Vater stabil bleiben, denn wenn auch er nicht mehr da wäre, würde die Welt einstürzen. Diese Erkenntnis erschreckte Anders zu Tode.
    Um die Stille aus dem Haus zu verjagen, begann er, Musik zu hören. Im Bücherregal gab es ungefähr dreißig Platten, und eine nach der anderen durfte sich auf dem Plattenteller drehen. Es war seine Mutter, die die Beatles schätzte. Wenn die Musik den Raum erfüllte, konnte er so tun, als sei alles normal. Als wäre sie nur in die Küche gegangen und würde gleich mit einem Kaffeebecher und Smålands Folkblad auftauchen und sich auf das Sofa legen, um zu lesen.
    Wie sie es immer tat.
    Gott sei Dank war die Situation vorübergehend, denn Anders wusste nicht, wie lange er es schaffen würde, den Fröhlichen zu spielen. Er begriff nicht, warum es so viel Zeit brauchte, bis sie gesund wurde. Genauso oft wie sie ihm sagte, dass er tüchtig sei, versprach sie ihm auch, bald wieder nach Hause zu kommen.
    Jeden Abend ritzte er eine Kerbe in die Wand seines Kleiderschranks. Teils, um die Kontrolle darüber zu behalten, wie viele Tage vergangen waren, seit das Gewöhnliche verschwunden war, je mehr es wurden, desto weniger blieben. Aber auch, um hinterher auf sie zurückblicken zu können, als heimliche Narbe der Tage, die endlich vorüber waren. Wenn er in Zukunft traurig wäre, würde er die Striche betrachten können und einsehen, dass er vergleichsweise gut dran war. Er hatte geglaubt, ein Brett würde reichen, aber jetzt waren es schon so viele Kerben, dass er bereits auf dem vierten angekommen war.
    Es war Zeit für einen neuen Besuch. Jeden zweiten Tag war es derselbe Ablauf, wenn sie pünktlich zur Besuchszeit am Abend den Bus zu Jönköpings Krankenhaus nahmen. Der braune Opel stand mittlerweile ungenutzt da, weil sein Vater keinen Führerschein besaß.
    Anders saß auf seinem Bett und sah den Wecker den Zeitpunkt überschreiten, an dem er die Treppen hinuntergehen, links ins Arbeitszimmer einbiegen und sagen sollte, dass es Zeit zum Aufbruch sei. Sein Vater würde verwundert auf seine Armbanduhr schauen, vom Sessel aufspringen und dankbar beteuern, wie tüchtig er sei. Draußen in der Diele würde er durch Anders’ Haare wuscheln und sagen, ohne ihn würde es wohl nicht funktionieren. Dieser Ablauf der Ereignisse war in der Zeit der Kleiderschrankkerben Routine.
    Diesmal blieb Anders sitzen. Nichts war aus dem Erdgeschoss zu hören, und er

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