Eine zweite Chance
nur um sofort wieder in seiner Bücherwelt zu verschwinden.
»Du bist so tapfer, Anders. Denk nur, du hast kein einziges Mal geweint.«
Zur Belohnung für sein tadelloses Benehmen bekam er eine E-Gitarre geschenkt.
Kapitel 10
Auf dem Hof der Anderssons saß Anna-Karin in der Küche und schaute hinaus auf das Land. Sie hatte sich eine Pause von den Aufräumarbeiten gegönnt und sich eine Tasse Kaffee gekocht. Da waren Kleider, die sortiert werden mussten, ein Projekt, das sie schon lange hatte anpacken wollen. Heute, da viele Gedanken um Helgas Tod kreisten, war es gut, etwas zu tun zu haben.
Das Radio lief wie gewöhnlich. Eine angenehme Gesellschaft. Heute entschied sie sich, es auszuschalten. Für die Gedanken, die aufstiegen, war das Geplätscher die falsche Art von Geräuschkulisse. Die Musik war eine andere gewesen, als Helga in ihren besten Zeiten dort an der anderen Seite des Tisches gesessen und hinunter auf die Straße und oft auf die Kastanie geschaut hatte, die sie so sehr liebte.
Ihr ganzes Leben hatte die Tante auf dem Hof verbracht, unverheiratet und kinderlos war sie eingesprungen, wenn Anna-Karins Großeltern sie ihr überlassen hatten. Anna-Karin war oft mit irgendeinem Anliegen vorbeigekommen. Im unveränderlichen Trott der Tante war alles sicher. Sie hatten da am Tisch gesessen und ihren Kaffee getrunken, hatten dann und wann etwas gesagt, waren aber meistens still gewesen. Helga war nicht diejenige, die Fragen stellte, und viele Male im Leben war Anna-Karin dankbar dafür gewesen.
Sie rührte in ihrer Kaffeetasse. Um sie herum war das meiste unverändert. Die Erinnerung an Helga schwebte über den Dingen, sogar über der Kaffeetasse. Fast alle ihre eigenen Sachen waren in den Umzugskartons geblieben, die sie auf den Dachboden gestellt hatte, als sie einzog. Sie hatte das merkwürdig gefunden, dass das meiste, was sie angesammelt hatte und was so unentbehrlich erschienen war, sich so schnell als verzichtbar erwies, wenn es erst eingepackt war.
Sie schloss die Augen und horchte. Das zuverlässige Ticken der Küchenuhr. Das Schaben des Fliederbuschs an der Außenwand.
Damals wie heute.
Nur Helga war für immer fort und mit ihr eine ganze Generation. Eine Epoche war vorbei, und plötzlich war Anna-Karin die Älteste.
Sie ging mit der ausgetrunkenen Tasse zum Spülstein. Wusch sie ab und stellte sie zum Trocknen hin. So viel Geschirr brauchte man ja nicht, wenn man allein lebte, aber sie hatte überlegt, sich eine kleine Geschirrspülmaschine anzuschaffen. Eine, die man nicht einbauen musste, sondern einfach auf die Anrichte stellen konnte. Die Küche sollte so bleiben, wie sie sie in Erinnerung hatte, in der Einrichtung steckten so viele Kindheitserinnerungen. In den anderen Räumen war es einfacher. Sie hatte Helgas altes Sofa durch ihr eigenes ersetzt, einen kleinen Tisch für den Fernseher gekauft, in den meisten Zimmern die Gardinen gewechselt und ihre Topfpflanzen aus der Wohnung mitgenommen. Aber vieles von Helga war geblieben. Sie hatte es darauf geschoben, dass die Tante noch lebte, aber jetzt, da sie weg war, sollte sie wohl auspacken und einiges austauschen. Vielleicht die Kinder um Hilfe bitten, um ein paar Zimmer neu zu tapezieren. Den Teppichboden entfernen und verborgene Holzböden schleifen. Aber alles selbst anzupacken, war schwer und musste daher erst einmal in die Zukunft verschoben werden.
Sie seufzte. Und dachte daran, dass es eine ganze Menge zu tun gab.
Die Sonne schien durch die grauen Fensterscheiben, die Schicht, die der Frühling immer vom Winter erbte. Es war Zeit zum Fensterputzen, was ein wiederkehrendes Problem war. Vieles konnte sie trotz der Nackenschmerzen machen, aber Fensterputzen gehörte nicht dazu. Die Schmerzen waren ständig da, wurden aber manchmal durch Schmerztabletten gelindert. Der Arzt hatte gesagt, sie sollte Krankengymnastik machen, aber er hatte gut reden, da ihm ja nichts wehtat. Manchmal machte sie zwischendurch die Übungen, spürte aber nie eine Besserung. Helena hatte ihr geraten, zu einem Chiropraktiker zu gehen, aber Anna-Karin glaubte nicht so recht an so etwas. Mit den Schmerzen war es, wie es war. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt.
Früher hatte sie ihren kleinen Bruder Lasse um Hilfe beim Fensterputzen gebeten. Doch mittlerweile befürchtete sie, ihm dadurch etwas zu schulden. Lisbeth könnte dann einen Gegendienst verlangen, und oft bestand der darin, dass Anna-Karin ihre Einwilligung geben musste, wenn ihre
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