Eine zweite Chance
sah den Zeiger immer weiter von dem Punkt wegschleichen, an dem sie noch pünktlich gewesen wären. Sie waren jetzt nah, die Tränen, die er nicht zu weinen wagte, denn solange er tüchtig war, war es leichter, sie herunterzuschlucken. Jetzt war er nicht mehr tüchtig und hatte schon ein schlechtes Gewissen. Trotzdem blieb er sitzen, denn er wollte nicht mehr.
Er hasste die Besuche im Krankenhaus. Hasste den Krankenhausgeruch, der ihnen entgegenschlug, wenn sie eintraten, der seine Mutter imprägniert und ihren Mamageruch vertrieben hatte. Er hasste ihren aufgequollenen Körper und die blauen, gesprungenen Lippen. Er hasste den Mund, der immer offen stand, keuchend und röchelnd, als sei sie am Ertrinken. Sie saß da, auf Kissen gestützt, und ihr Lächeln erinnerte an eine Wichtelmaske, genauso gekünstelt und erschreckend, als sei es nur da, um etwas zu verbergen.
Er wollte nicht mehr dahin gehen. Warum wurde sie nicht gesund, wie sie es versprochen hatte? Er war tüchtig gewesen. Hatte alles genauso gemacht, wie sie ihn gebeten hatte. War rechtzeitig in die Schule gegangen und hatte alle Hausaufgaben erledigt und kein einziges Mal den Turnbeutel vergessen. Bei jedem Besuch bekam er Lob und als Belohnung Geld, um sich etwas zu kaufen. Warum nicht anfangen, etwas zu sammeln, vielleicht Briefmarken oder Eishockeybilder?
Wenn du dir etwas kaufst, wirst du sehen, dass du froh bist .
Vorgestern hatte es ihm endgültig gereicht. Es geschah, als er mit dem Geld in der Hand dastand und es Zeit wurde zu gehen. Er war plötzlich wütend geworden auf ihre Lügen, dass sie nie mit ihnen nach Hause zurückkehrte, wie sie es versprochen hatte. Am Ende der Besuchszeit umarmte er sie gewöhnlich immer. Aber vorgestern hatte er es nicht über sich gebracht. Sie hatte ihr Wichtelmaskenlächeln gezeigt und mit ihren bläulich gesprungenen Lippen gesagt, das mache nichts. Aber in ihren Augen hatte er etwas anderes gesehen – er hatte seine Mutter traurig gemacht.
Keine Warnsignale hatten geblinkt. Kein Alarm war ausgelöst worden. Dieser Moment enthielt genauso viele Sekunden wie andere Momente. Trotzdem war es genau dieser Augenblick, den er für den Rest seines Lebens am meisten bereuen würde.
Die Wahl, die er getroffen hatte.
In all den Jahren hatte die Erinnerung in ihm geschabt und war zu einer geschliffenen Klinge geschärft worden, die gefährlich nah am Herzen gelauert hatte. Eine unvorsichtige Bewegung, und sie würde eindringen.
Sein Wunsch war erfüllt worden, und er musste nie mehr dort hingehen.
In der Nacht, am selben Tag, als sie den Bus verpasst hatten, starb sie an einem akuten Lungenödem.
»Du bist so tapfer, Anders. Denk nur, du hast kein einziges Mal geweint.«
Seine Mutter war die einzige, die in einem weißen Sarg mit roten Rosen gelegen hatte, während die anderen Mütter schick gekleidet auf den Kirchenbänken gesessen hatten. Ihre Kinder mussten nicht zu der Beerdigung gehen. Sie blieben stattdessen zu Hause und spielten. Kinder sollten nicht auf Beerdigungen gehen, hatte er die Tanten sagen hören, die mit dem Zug gekommen waren, um zu helfen, wo alles auf den Kopf gestellt worden war. Nur er selbst war dabei gewesen, da es seine Mutter war, die beerdigt werden sollte, und fast alle in der Kirche hatten geweint, bis auf ihn.
»Es ist schön für sie, dass sie endlich alle Schmerzen los ist. Sie hat es jetzt gut im Himmel. Sie sitzt bestimmt da oben auf einer Wolke und schaut auf dich hinunter.«
Er selbst hatte gelernt, dass es hässlich war zu lügen, wagte aber nicht zu fragen, ob man wirklich in den Himmel kommen könnte. Denn seine Mutter hatte gelogen, als sie ihm versprochen hatte, gesund zu werden. Er war jedoch nicht sicher, ob man jemandem böse sein durfte, der gestorben und in eine Kiste eingeschlossen war, und er wagte auch nicht, danach zu fragen.
Zwei Wochen lang waren die Tanten geblieben, und während dieser Zeit lag sein Vater im Bett. Außer Sichtweite lauschte Anders den bekümmerten Gesprächen der Tanten, die sofort unterbrochen wurden, wenn er auftauchte. Dann gewann ihr aufmunterndes Lächeln die Oberhand, alles würde gut werden und vielleicht wäre es günstig, wenn er sich mit etwas beschäftigte, damit er an etwas anderes denken konnte.
An dem Tag, an dem sie abreisten, war der Tiefkühlschrank mit vorgekochtem Essen gefüllt, das Haus aufgeräumt und der Wäschekorb geleert. Jetzt war es an der Zeit, dass sein Vater übernahm. Endlich erhob er sich aus dem Bett,
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