Eine zweite Chance
Fenster.
»Als Kind habe ich es selbst nicht verstanden. Ich sah nur, was ich sah, und fühlte, was ich fühlte. Seitdem habe ich eine Menge gelernt und andere Menschen getroffen, die sind wie ich. Jetzt weiß ich also etwas mehr darüber.«
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
Verner zupfte etwas abgeblätterte Farbe vom Fensterrahmen, seufzte und zögerte mit der Antwort. »Auch wenn ihr nicht das seht, was ich sehe, behauptet ihr doch auch, dass verschiedene Menschen eine unterschiedliche Ausstrahlung haben. Ihr sagt, gewisse Menschen würden euch Unbehagen bereiten, während andere etwas Besonderes ausstrahlen. Manchmal könnt ihr spüren, dass jemand euch anschaut, ihr könnt wahrnehmen, ob es gute oder schlechte Vibrationen im Raum gibt. Aber nur wenige suchen eine logische Erklärung dafür, ihr akzeptiert, dass es ist, wie es ist.« Er beugte sich vor, die Hände auf dem Fensterbrett, als wolle er sich hinausstemmen. Im Gegenlicht wirkte es so, als würden die Haare wie eine Wolke um den Kopf herum schweben. »Aus irgendeinem Grund kann ich diese Vibrationen sehen, die die meisten nur fühlen. Besser gesagt weiß ich gar nicht, ob ich sie sehe, aber ich habe Farben davon im Kopf, und diese Farben lösen verschiedene Empfindungen in mir aus. Ich fühle ganz einfach, wie es den Menschen geht.«
Helena und Anders wechselten einen Blick. Mit der Hand vor dem Mund versuchte er, ein Lächeln zu verbergen. Ihr gemeinsamer Argwohn wurde zu etwas, das sie verband.
Verner drehte sich um, ging zum Stuhl zurück und setzte sich. »Es gibt ein Energiefeld um alles herum, was lebt.« Er streckte die Hand mit gespreizten Fingern aus, drehte sie hin und her, als sei das ein seltener Anblick. »Das ist ja eigentlich nichts Merkwürdiges, alles besteht ja tatsächlich nur aus Energie, und jedes Atom vibriert, nichts befindet sich je in Ruhe.«
Anders zog plötzlich seinen Arm von ihrem Rücken zurück und änderte die Position. Seine Hände landeten auf den Schenkeln, wo die Finger rastlos zu trommeln begannen. »Diese Vibrationen, die für mich zu Farben werden, kommen wohl von all den elektrischen Impulsen im Gehirn oder den Gedanken und Gefühlen, wenn ihr es lieber so nennen wollt. Ihr ahnt nicht, wie viele Farbnuancen es um einen Menschen herum gibt.«
Anders’ Ungeduld steckte sie an, und sie erhob sich. »Sie meinen also, Sie können die Gedanken der Menschen lesen?«
»Ne, das kann ich nicht. Aber die Farben bewirken, dass ich sehen kann, welche Gefühle diese Gedanken bei ihnen auslösen.«
Anders gab ein Geräusch von sich, vielleicht ein Räuspern.
Verner seufzte, als er ihr herablassendes Einverständnis sah. »Warum ist das nur immer so provozierend. Die Leute sperren sich in ihre eigene Vorstellungswelt ein, und wenn etwas Neues dort hineindrängt, werden sie böse. Ihr akzeptiert ohne weiteres, dass es verschiedene Arten von Strahlung gibt, wie Mikrowellen oder Radioaktivität, obwohl ihr sie nicht mit eigenen Augen seht. Den meisten ist sogar bewusst, dass Menschen eine unterschiedliche Ausstrahlung haben. Aber wenn ich sage, dass sie damit Recht haben, wehren sie das ab und behaupten, ich sei verrückt. Ich bin übrigens noch gar nicht dazu gekommen zu erzählen, dass es oft noch deutlicher wird, wenn ich jemanden berühre, denn wenn eine Gemütsverfassung stark genug ist, wird sie auf mich übertragen.« Er stand auf und machte ungeduldig ein paar Schritte durch den Raum, kehrte dann wieder zum Stuhl zurück und setzte sich. »Man kann es nicht so erklären, dass es vernünftig klingt, keinem, der es nicht selbst erlebt hat. Es ist, als versuche man jemandem zu beschreiben, wie es sich anfühlt, Äpfel zu essen, der noch nie welche gegessen hat.«
Anders räusperte sich erneut, diesmal kräftiger.
»Wie Sie sicher merken, fällt es Helena und mir etwas schwer, das hier anzunehmen, aber es gibt ja eine einfache Art, uns zu überzeugen. Sie können ja erzählen, wie wir uns fühlen.«
»Warum sollte ich das tun, wissen Sie das nicht selbst?«
»Ja, aber … dann könnten wir vielleicht glauben, was Sie sagen.«
»Es ist mir vollkommen gleichgültig, was ihr glaubt oder nicht glaubt. Ich habe Helena aus einem einzigen Grund hierhergebeten, weil ich mir nämlich Sorgen um das Mädchen mache.« Er betrachtete Anders für eine Weile, mit schräg gelegtem Kopf und einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Ich muss sagen, Sie erstaunen mich etwas. Heute Morgen auf dem Acker sah es so aus, als
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