Eine zweite Chance
hätten Sie es sich überlegt, aber da muss ich mich getäuscht haben. Das erste Mal, als ich Sie sah, waren Sie nämlich kein schöner Anblick. Es ist eine Sache, wenn man so krank ist, dass man keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann, aber im Übrigen mag ich keine Menschen, die glauben, gerade ihre Bürde sei so schwer, dass sie sich das Leben nehmen müssten. Das muss der Gipfel des Größenwahnsinns sein.«
Helena blickte verblüfft auf Anders, dem die Röte ins Gesicht gestiegen war.
»Und die Antwort auf Ihre Frage, Helena, falls Sie Ihr Selbstmitleid loslassen und eine Weile zuhören können, ist so, dass ich Ihre Tochter nur ein Mal getroffen habe, gestern, in der Küche des Hotels. Es hat mich sehr bekümmert, aber ich wollte nichts sagen, weil ich so froh darüber war, dass Sie und ich uns getroffen haben. Und von meiner Fähigkeit zu erzählen, ist gewöhnlich der schnellste Weg, eine Bekanntschaft zu beenden.«
Diese Kritik wirkte wie ein Peitschenschlag.
»Wieso Selbstmitleid?«
Verner schnaubte. »Da sehen Sie es selbst, nicht einmal jetzt kommt Ihre Tochter an erster Stelle.«
Helena blieb mit offenem Mund stehen. Als sie seine Worte aufgenommen hatte, sank sie auf das Bett. Sie war tief getroffen. Das Bedürfnis, sich zu verteidigen, war stark. Was wusste er von Martins Verrat, ihrem Kampf um das Hotel, damit Emelie hier wohnen bleiben könnte. Was wusste er von der Sorge, die sie um ihre Tochter empfand? Er hatte sie mit seinem Geschwätz hereingelegt und nahm sich obendrein das Recht heraus, sie zu beleidigen. Sie schielte nach Anders. Er saß da, den Blick auf den Schoß gerichtet, diesmal bekam sie keine Hilfe.
»Was hat Sie denn an Emelie so bekümmert?«
»Warum fragen Sie, wenn Sie doch nicht daran glauben, was ich sage?«
Sie öffnete den Mund, stellte aber fest, dass sie keine Antwort hatte. Alles, was in ihrem Kopf widerhallte, war das Wort Selbstmitleid. Ihr ohne Grund eine so schlechte Eigenart vorzuwerfen.
»Zu zweifeln ist ganz in Ordnung, dort nehmen alle Fortschritte ihren Anfang. Zu verurteilen ist dagegen nur eine Möglichkeit für den Faulen, seine Bequemlichkeit zu schützen. Es ist ziemlich mutig zu meinen, man habe einen so hervorragenden Verstand, dass man sich erlaubt zu verachten, was man nicht begreift. Aber Ihrer Tochter zuliebe werde ich Ihre Frage doch beantworten, denn sie ist der einzige Grund, warum ich das alles erzähle. Ihre Tochter hat keine Farben. Ich habe nichts gesehen, absolut nichts, und wenn einem Menschen die Aura fehlt, gibt es allen Grund, sich Sorgen zu machen. Außerdem, als ich ihre Hand nahm, spürte ich eine solche Ohnmacht, dass mir der Atem stockte. So soll sich ein Kind nicht fühlen müssen. Was Sie betrifft, habe ich ja gestern in der Küche schon gesagt, was ich sehe, auch wenn Sie zu beschäftigt waren, um zuhören zu können. Ich habe gesagt, dass wir selbst entscheiden, ob wir Weinessig oder ein Jahrgangswein werden wollen, denn nicht einmal eine schöne Frau wie Sie kleidet diese Bitterkeit. Das ist eine der hässlichsten Farben, die es gibt.«
Kapitel 19
Es gab Augenblicke, die ihn dazu gezwungen hatten, die Richtung zu wechseln. Einige davon hatten sein Leben in den Grundsätzen erschüttert und nachhaltige Auswirkungen gehabt. Vielleicht enthielten sie genauso viele Sekunden wie andere Augenblicke, vielleicht war es nur die Gewichtung, die anders war. Das Einzige, was Anders wusste, war, dass er für den Rest seines Lebens den Begriff »vielleicht« mit sich herumschleppen musste.
Ein kurzer Augenblick, in einen Scheideweg verwandelt.
Seine hundert Milliarden Hirnzellen wollten weiter in ihren gewohnten Bahnen fortfahren, logisch und sicher, ohne Bedrohung von etwas Unbegreiflichem. Denn unbegreiflich war das, was Verner ihm ohne eine vernünftige Erklärung präsentiert hatte.
In seinem Verstand fand ein Kampf statt.
Auf der einen Seite standen seine Wirklichkeitsauffassung und seine gesamte Lebenserfahrung, eifrig von der allgemein herrschenden Akzeptanz angefeuert. Auf der anderen Seite ein einziger kleiner Zwischenfall, leicht auszulöschen, wenn sich nur eine Ausrede dafür fände.
Sein Gehirn suchte nach Logik. Für den gesunden Menschenverstand gab es keine Erklärung. Was geschehen war, widersetzte sich und wollte Zustimmung. Doch das Gehirn kämpfte noch dagegen an. Denn jenseits der Vernunft wartete unbekanntes Terrain, wo nichts für gegeben gelten konnte, wo sich das Wissen in Fragen
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