Eine zweite Chance
plötzlich Atemnot und musste sich am Türrahmen abstützen. »Was hat er noch gesagt?«
»Er hat nur das gesagt. Das Ganze war sehr merkwürdig. Wir sahen Emelie zum Bus hinunterlaufen, und danach hatte er mir dann das gesagt. Vielleicht war es dumm von mir, überhaupt davon zu erzählen. Möglicherweise hat er ja auch nur gemeint, dass man sich Sorgen machen müsse, weil sie sich die Haare schwarz gefärbt hat.«
Aber um wieder atmen zu können, musste Helena sich vergewissern. Im tiefsten Inneren wusste sie, dass es etwas anderes war. Dass es etwas gab, was sie nicht hatte sehen können.
Anders legte ihr eine Hand auf die Schulter, eine Berührung, so ungewohnt, dass sie erstarrte.
»Ich kann dich begleiten, wenn du willst.«
Sie war ihm zutiefst dankbar.
Anders stand auf der Vortreppe, bereit anzuklopfen. Sie hielt etwas Abstand und hatte Herzklopfen. Eigentlich wollte sie Verners Häuschen nicht betreten, von ganzem Herzen bereute sie es, auf ihn zugegangen zu sein. Ihr blöder Heldenmut, als sie für den Schwachen Partei ergriffen hatte.
Jetzt konnte Anna-Karin dasitzen und triumphieren.
Sie spürte die Vorahnung einer kommenden Katastrophe. Was auch immer sie innerhalb der vier Wände dieses Häuschens zu hören bekommen würde, es würde in jedem Fall wehtun. Es gab keinen Platz für diesen Schmerz. Wenn er sie traf, würde sie über die Grenze gestoßen werden und in die Tiefe stürzen. Ob sie das überleben würde, wusste sie nicht. Ein halbes Jahr lang war es ihr gelungen, diese Gefahr von sich fernzuhalten. Jetzt schaffte sie es nicht mehr.
»Bist du okay?«
Sie nickte, und Anders klopfte an die Tür.
Der Verner, der ihnen die Tür öffnete, war ein anderer als zuvor. Das Lächeln war einer mürrischen Miene gewichen, und ihr wurde klar, dass keiner von ihnen sich auf den Besuch freute. Er ließ die Tür offen stehen und verschwand wieder hinein, Anders drehte sich um. »Komm jetzt.«
Ohne Anders wäre sie nicht hineingegangen. Dankbar dafür, dass er das Kommando übernahm, ging sie zur Treppe, ihre Beine zitterten. In einer kleinen Diele zogen sie ihre lehmigen Gummistiefel aus, eine schwarzweiße Katze strich schnurrend um ihre Beine. Verner war außer Sichtweite, sie hörte ihn in der Küche hantieren.
»Ihr könnt schon reingehen, der Kaffee kommt gleich.«
»Nein danke, für mich nicht.« Anders warf Helena einen Blick zu, und sie schüttelte den Kopf. »Helena ist auch zufrieden.«
Jetzt fühlte sie seine Hand im Kreuz, die sie vorwärtsschob. Die Geste war beschützend, aber verheerend für ihre Selbstkontrolle. Seine Fürsorge brachte sie fast zum Weinen.
Sie saß mit Anders auf dem karierten Überwurf eines Bettes. Das Zimmer war so überladen, dass die niedrige Decke auf den hohen Stapeln zu ruhen schien. Schubladen, Kartons, Bücher und Zeitungen. Zwei kleine Sprossenfenster. Trotz der strahlenden Sonne draußen wirkte das Zimmer dunkel. Ein Radio, eine Kuckucksuhr, eine alte Schreibmaschine. Kleiderbügel mit verschiedenen Sachen hingen hier und da, wo etwas herausragte, woran man sie festhaken konnte. Das typische Haus eines Außenseiters. Er stand mit einer Tasse Kaffee in der Tür.
»Das Dorf, in dem ich geboren wurde, war so ähnlich wie dieses.«
Sie überwand ihren Widerwillen und drehte den Kopf in seine Richtung. »Was hat das mit Emelie zu tun?«
»Wenn Sie sich ein wenig beruhigen, werde ich es erklären.«
»Ich bin nur gekommen, um zu erfahren, warum Sie das über Emelie gesagt haben. Wo haben Sie sie getroffen?«
Er seufzte. »Wenn Sie wissen wollen, warum ich Sie bat vorbeizukommen, müssen Sie sich gedulden. Es gibt keine schnelle Art, das zu erzählen. Es gibt übrigens überhaupt keine Art, das weiß ich seit langem, es ist also das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass ich darüber rede.«
Er stellte die Kaffeetasse auf einem Bücherstapel ab, ging zu einem Stuhl neben dem Bett, zog ihn ein Stück heran und setzte sich. Das Schweigen, das darauf folgte, schien endlos. Helena wollte die Frage wiederholen, sie herausschreien, ihm eine Antwort entreißen.
»Es gibt Dinge, die man von sich selbst nicht erzählen sollte. Jedenfalls nicht, wenn man jemand ist wie ich. Aber für gewisse Sachen kann man nichts, man wird so geboren, wie man ist. Ich habe ziemlich viele Leute vergrault, bevor ich gelernt habe, den Mund zu halten.«
»Sagen Sie, was Sie mit Emelie gemacht haben.«
Sein Zorn kam augenblicklich. »Ich habe nichts mit Emelie gemacht.«
Die
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