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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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war, und als ich die Handschrift erkannte, wurde mir ganz heiß. Der Brief war von Gerard.
    Ich machte ihn vorsichtig auf, sodass ich ihn sofort verschwinden lassen konnte, falls Stella oder eine andere Schwester sich näherte.
    Meine Liebste!
    Das Laub färbt sich herbstlich, und Du fehlst mir so sehr. Warum musstest Du nur weggehen?
    In Seattle hat sich nichts verändert, seit Du weggegangen bist, nur dass es ohne Dich hier einsamer ist. Wahr scheinlich trägt auch der Krieg das Seine zu dem Gefühl der Einsamkeit bei. Er ist das einzige Gesprächsthema, und ich mache mir Sorgen um Dich. Es wird eine große Schlacht im Pazifik stattfinden. Ich bete, dass Deine Insel davon verschont bleibt. Viele Experten sind der Ansicht, dass Euch dort keine Gefahr droht. Ich kann nur hoffen, dass sie recht behalten.
    Der Krieg hat uns die Besten genommen. Im Cabaña Club herrscht gespenstische Leere. Du würdest den Club nicht wiedererkennen. Alle gesunden Männer haben sich entweder freiwillig zum Krieg gemeldet oder sind einge zogen worden, und ich wollte Dich nur wissen lassen, dass ich trotz allem, was mein Vater für mich getan hat, um mich vor dem Kriegsdienst zu bewahren, in Erwägung ziehe, mich freiwillig zu melden. Ich glaube, es wäre das Richtige. Das nächste Truppenkontingent bricht am 15. Oktober auf. Ich könnte meine Freistellung rückgängig machen lassen und gemeinsam mit den anderen losziehen. Bevor es nach Europa weitergeht, würde ich zwei Wochen Grundausbildung in einem Militärcamp in Kalifornien absolvieren.
    Bitte mach Dir keine Sorgen um mich. Ich werde Dir oft schreiben, um Dir zu berichten, wie es mir geht, und ich werde von dem Tag träumen, an dem wir wieder vereint sind.
    Ich liebe Dich von ganzem Herzen und denke öfter an Dich, als Du Dir vorstellen kannst.
    In Liebe
    Gerard
    Ich drückte mir den Brief an die Brust und blinzelte ein paar Tränen fort. Auch wenn sein plötzlich erwachter Patriotismus mir das Herz erwärmte, wollte ich nicht, dass er sich in Gefahr begab, und als ich daran dachte, wie viel Zeit vergangen war, seit er den Brief abgeschickt hatte, wurde mir beinahe schwindelig. War er vielleicht schon auf dem Schlachtfeld? Oder womöglich schon …?
    Als ich mich auf den Stuhl sinken ließ und versuchte, meine Tränen vor den anderen Frauen zu verbergen, legte mir jemand einen Arm um die Schultern. »Was ist los?«, fragte Mary leise.
    »Gerard«, erwiderte ich. »Ich glaube, er hat sich zum Kriegsdienst gemeldet.«
    Mary tätschelte mir den Rücken, während meine Tränen auf den Brief in meiner Hand tropften und Gerards schön geschwungene Handschrift verschmierten.
    »Was glaubst du, wie es wäre, mit einem Soldaten verheiratet zu sein?«, fragte Kitty mich am selben Abend, als wir zu Bett gingen. Sie saß in einem rosafarbenen, baumwollenen Nachthemd auf der Bettkante und bürstete sich verträumt die blonden Locken, während ich vergeblich zu lesen versuchte.
    Ich legte mein Buch beiseite. »Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass du vorhast, Lance zu heiraten?«
    Kitty bürstete weiter ihr Haar aus. »Ein Leben als Soldatenfrau würde einige Vorteile bieten«, sagte sie. »Die vielen Reisen und die Aufregung.«
    »Aber du hast ihn doch gerade erst kennengelernt«, entgegnete ich.
    Die Abende boten die einzige Gelegenheit, miteinander zu reden – zumindest die Abende, die Kitty nicht mit Lance verbrachte.
    Sie legte ihre Bürste auf den Nachttisch, kroch ins Bett und zog die Decke hoch bis zum Kinn. »Anne«, sagte sie. Ihre Stimme klang kindlich, neugierig, treuherzig und furchtsam. »Hast du von Anfang an gewusst, dass Gerard der Richtige ist?«
    Die Frage traf mich so unvorbereitet, wie es mir in Seattle nie passiert wäre. »Na ja, natürlich«, erwiderte ich und musste an seinen Brief denken. Die Zuneigung zu ihm übermannte mich. »Ich wusste es einfach.«
    Kitty nickte. »Ich glaube, mir geht es genauso«, sagte sie und drehte sich zur Wand um, bevor ich weitere Fragen stellen konnte. »Gute Nacht.«
    Westry war einen Monat lang zu einem Militäreinsatz auf einer anderen Insel gewesen und kam am 27. November zurück. In der Hoffnung, ihn auf dem Fußweg anzutreffen, wartete ich in der Nähe der Soldatenunterkünfte und tat so, als wollte ich Hibiskusblüten pflücken. Es war Mittwoch, ein Tag vor Thanksgiving, und im ganzen Camp gab es nur zwei Gesprächsthemen: Puter und Cranberry-Soße.
    »He, Sie da, Schwester«, rief einer der Männer aus dem zweiten Stock.

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