Einem Tag mit dir
ließ, anstatt ihr noch länger Bettruhe zu verordnen. Und auch wenn ihre Hände ab und an noch ein bisschen zitterten, war sie doch wieder einigermaßen bei Kräften, und an diesem Morgen half sie mir bei den Impfungen.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte ich. »Mir kommt es manchmal so vor, als wären wir gestern erst angekommen.« Ich zählte die Ampullen mit dem Impfstoff ab, die wir den Männern nach dem Frühstück verabreichen würden. »Gleichzeitig ist seither so viel passiert. Es kommt mir so vor, als wäre ich nicht mehr dieselbe, die hier mit dem Flugzeug angekommen ist.«
Mary nickte. »Mir geht es genauso. Ich kann mir kaum noch vorstellen, wie mein Leben vorher war.«
Ich seufzte. »Ich habe sogar fast vergessen, wie sich Gerards Stimme anhört. Ist das nicht schrecklich?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Mary. »Du liebst ihn doch immer noch.«
»Ja, natürlich«, erwiderte ich nachdrücklich und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm immer noch nicht geschrieben hatte.
»Ich kann mich auch kaum an Edwards Stimme er innern«, sagte Mary. »Aber ich finde das kein bisschen schrecklich.« Sie lächelte tapfer, und ich konnte ihr nur zustimmen.
Plötzlich fiel mir der Brief wieder ein, den ich ihr vor enthalten hatte. Ob sie schon so weit war? Ich lauschte ihrem Geplauder, während sie die Impfstofffläschchen auspackte und auf das Tablett stellte. Dieser Brief konnte alles verderben.
»Wo ist Kitty eigentlich?«, fragte Mary. »Ich dachte, ich hätte sie heute Morgen gesehen.«
»Sie müsste hier sein«, sagte ich und sah mich um. »Wir sind zusammen gekommen.«
»Nein«, grummelte Schwester Hildebrand, die meine Bemerkung gehört hatte. »Sie fühlte sich nicht gut, deshalb habe ich sie auf ihr Zimmer geschickt.«
Wie merkwürdig. Am Morgen war es ihr noch blendend gegangen. Ich versuchte, mir keine übertriebenen Sorgen zu machen, aber Kitty verhielt sich tatsächlich seltsam, und zwar im Grunde, seit wir auf der Insel angekommen waren – sie behauptete, sie würde irgendwohin gehen, tauchte dann aber wo ganz anders auf; versprach, mich zum Frühstück oder zum Mittagessen zu tref fen, und kam dann nicht. Sie redete nicht über Colonel Donahue, und ich hatte ihr auch nicht erzählt, dass ich sie mit ihm zusammen in dem Boot gesehen hatte. Das Thema schien zum Glück erledigt zu sein, aber sie verbrachte viel zu viel Zeit mit Lance. Am Abend zuvor war sie erst kurz vor Mitternacht ins Zimmer gekommen. Ich war wach geworden, als sie ins Bett gestiegen war, und hatte schlaftrunken einen Blick auf die Uhr geworfen.
»Wahrscheinlich hat sie sich den Magen-Darm-Virus eingefangen, der hier umgeht«, sagte Mary. »Sehr unangenehm.«
Ich glaubte nicht daran, dass Kitty etwas mit dem Magen hatte. Nein, da war etwas anderes im Spiel. Unsere Arbeit im Lazarett ließ uns keine Zeit für ausführliche Gespräche, jetzt, wo immer mehr Verwundete von nahe gelegenen Inseln eintrafen, die hart umkämpft wurden. Es waren nicht sehr viele, aber sie hatten schwere Verletzungen. Stichwunden. Schüsse in den Unterleib. Erst am Tag zuvor war ein Soldat eingeliefert worden, dem ein zerfetztes Bein sofort amputiert werden musste. Die bedrückende Aufgabe, verwundete Soldaten zu pflegen, füllte unsere Tage aus, und am Ende jeder Schicht zog sich jeder zurück, um noch für ein Stündchen ein wenig Ablenkung zu finden. Wo mochte Kitty ihre Ablenkung suchen?
Ich dachte an die anderen Schwestern. Stella verbrachte inzwischen viel Zeit im Aufenthaltsraum. Sie interessierte sich neuerdings für Shuffleboard, oder besser gesagt für Will, der Shuffleboard spielte. Wie üblich leistete Liz ihrer Freundin Gesellschaft. Mary, die nach der Arbeit meist ziemlich erschöpft war, ging in ihr Zimmer, um zu lesen oder Briefe an ihre Freundinnen zu Hause zu schreiben, während ich mich zur Hütte davonstahl. Westry war manchmal da, manchmal nicht, aber ich hoffte immer, ihn dort anzutreffen.
»Post!«, rief eine der Krankenschwestern an der Tür zum Lazarett.
Ich überließ Mary die Impfstoffe und ging zu der Ablage mit der eingegangenen Post. Normalerweise kam nur wenig Post, aber diesmal war die Ablage so voll, dass einige Sendungen herunterrutschten, als ich sie näher an den Tisch heranzog. So viele Briefe, die wie U-Boote in unser Privatleben eindrangen.
Für Stella waren fünf Briefe dabei, für Liz drei und für Kitty zwei, beide von ihrer Mutter. Dann entdeckte ich einen Brief, der an mich adressiert
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