Einem Tag mit dir
»Was glauben Sie, werden wir einen Vogel kriegen?«
»Seh ich vielleicht aus wie eine Köchin?«, erwiderte ich ungerührt.
Der Soldat, vielleicht gerade einmal neunzehn, grinste und verzog sich vom Fenster. Ich hatte Monate gebraucht, um mich an den Umgang mit den Soldaten und an den Krieg zu gewöhnen. Meine anfängliche Befangenheit war verflogen. Wenn einer mich anknurrte, knurrte ich zurück, und für jede anzügliche Bemerkung hatte ich eine Retourkutsche parat. Meine Mutter wäre außer sich gewesen.
Nach zwanzig Minuten war Westry immer noch nicht aufgetaucht, und so kehrte ich schweren Herzens und mit einem Korb voll Hibiskusblüten in unsere Unterkunft zurück.
»Post«, sagte Kitty und warf einen Brief auf mein Bett. »Von deiner Mutter.«
Schulterzuckend verstaute ich den Brief in der Tasche meines Kleids, während Kitty einen Blick in den mit Blumen gefüllten Korb warf, den ich an der Tür abgestellt hatte. »Die sind ja wunderschön«, schwärmte sie. »Die brauchen Wasser.«
Sie nahm die Blüten aus dem Korb und arrangierte sie in dem Wasserglas auf der Kommode.
»Die halten nicht lange«, sagte ich. »Die taugen nicht als Schnittblumen. Bis morgen früh sind die längst verwelkt.«
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Aber jetzt sind sie doch hübsch.«
Ich nickte. Ich wünschte, ich könnte wie Kitty die Schön heit des Augenblicks genießen. Es war eine Gabe.
Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete fasziniert die behelfsmäßige Vase mit den leuchtend roten Blüten, deren Pracht schon vergangen sein würde, wenn wir vom Abendessen zurückkamen. »Das hätte ich beinahe vergessen«, sagte sie. »Ich habe auch einen Brief aus der Heimat bekommen. Von meinem Vater.«
Kitty riss den Umschlag auf, nahm den Brief heraus und begann lächelnd zu lesen. Doch dann runzelte sie die Stirn, und plötzlich wirkte sie entsetzt. Schließlich liefen ihr Tränen über die Wangen.
»Was ist los?«, fragte ich und trat neben sie. »Was steht da?«
Sie warf sich aufs Bett und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.
»Kitty«, drängte ich sie. »Erzähl doch, was los ist.«
Sie rührte sich nicht, also hob ich den Brief auf, der auf den Boden gefallen war, und las, was ihr Vater geschrieben hatte.
Liebes,
ich wollte Dir nur kurz mitteilen, dass Mr. Gelfman sich im September zum Kriegsdienst gemeldet hat, nach Europa. Ich fürchte, dass er gefallen ist. Diese Nachricht wird Dich wahrscheinlich schwer treffen. Deine Mutter wollte nicht, dass ich es Dir schreibe, aber ich fand, Du solltest es erfahren.
Ich verstaute den Brief in Kittys Nachttisch. Diese verdammte Post. Warum musste sie uns auf diese Weise heimsuchen? Es ging uns immer gut, bis die Briefe eintrafen. »Kitty«, sagte ich und legte meine Wange an ihre. »Es tut mir wirklich leid.«
»Lass mich einfach«, flüsterte sie.
»Ich bringe dir das Abendessen aufs Zimmer«, sagte ich, als die Sirene ertönte.
»Ich hab keinen Hunger«, jammerte sie.
»Ich bringe es dir trotzdem.«
Ich lud mir eine ordentliche Portion Kartoffelpüree auf den Teller und nahm – mit der Erlaubnis des Kochs – einen Extrateller für Kitty mit, dazu Möhrenscheibchen und gekochten Schinken, der im Kantinenlicht schrumpelig und vertrocknet aussah. Immerhin kein Dosenfleisch, darüber war ich froh.
Als Stella und Mary mir zuwinkten, ging ich an ihren Tisch. »Ich bin nur kurz gekommen, um für Kitty und mich das Abendessen zu holen. Sie hat heute einen Brief mit schlechten Nachrichten erhalten.«
Mary runzelte die Stirn. »Die Arme«, sagte sie. »Willst du dich nicht einen Moment zu uns setzen? Du kannst unmöglich mit zwei Tabletts zum Schwesterntrakt rübergehen. Am Ende stolperst du noch. Iss doch lieber hier.«
Nach kurzem Zögern willigte ich ein und setzte mich neben Mary.
»Es heißt, dass es heute in den Männerunterkünften eine Schlägerei gegeben hat«, berichtete Stella hinter vorgehaltener Hand. »Die Insel schafft die Männer ganz schön.«
»Sie schafft uns alle«, erwiderte ich und versuchte, die harte Scheibe Schinken mit einem stumpfen Messer durchzuschneiden.
Stella nickte. »Ich habe Lance gestern auf dem Markt gesehen. Er hatte diese Eingeborene im Arm.«
Ich war froh, dass Kitty nicht dabei war. Sie hatte für heute wahrlich genug Kummer. »Du meinst Atea«, sagte ich. »Sie hat einen Namen.« Es ärgerte mich, dass Stella so wenig Respekt vor der eingeborenen Bevölkerung der Insel hatte.
»Kann sein«, erwiderte sie schulterzuckend.
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