Einem Tag mit dir
»Lance hat auf jeden Fall was mit ihr.«
Mary sah sie zweifelnd an. »Ach, Stella«, sagte sie, »dass sie ihm Zigaretten besorgt, heißt noch lange nicht, dass er was mit ihr hat.«
Stella zuckte wieder die Schultern. »Ich sage nur, was ich gesehen habe.«
Arme Kitty. Ich würde ihr nichts davon erzählen. Jeden falls noch nicht. Sie musste sich erst mal von dem Schock erholen.
»So, Mädels«, sagte ich und nahm das Tablett. »Ich muss das Essen abliefern.«
»Gute Nacht«, sagte Mary.
Stella nickte und biss herzhaft in einen Keks.
Ich verscheuchte unterwegs ein paar Fliegen vom Tablett und blieb einen Moment lang vor den Männerunterkünften stehen, weil ich hoffte, Westry in einem der Fenster zu erspähen. Schlief er im Erdgeschoss oder im ersten Stock? Als ich die Fenster im Erdgeschoss absuchte, blieb mein Blick an einem offenen Fenster in der Mitte des Gebäudes hängen, aus dem laute Stimmen und klatschende Geräusche drangen. Eine Prügelei! »Ja, Sir!«, rief jemand. »Bitte, Sir!« Das war Westrys Stimme!
O Gott! Er wurde anscheinend verprügelt und war womöglich verletzt . Ich stellte das Tablett auf einer Bank ab und eilte zum Eingang. Ich musste ihm unbedingt helfen. Nur wie? Frauen war der Zutritt zu den Männerunterkünften verboten. Verzweifelt blieb ich auf den Eingangs stufen stehen. Ich hörte Männer stöhnen und ächzen. Dann klang es, als würden Möbel zu Kleinholz verarbeitet. Das musste ein Ende haben!
Kurz darauf trat Stille ein. Eine Tür wurde zugeschlagen, dann polterte jemand mit schweren Schritten eine Treppe hinunter. Mir wurde flau im Magen, als Colonel Donahue in der Tür erschien und sich die blutende Hand hielt. Ich versteckte mich hinter dem Hibiskusstrauch und sah ihm nach, wie er auf direktem Weg zum Lazarett marschierte.
Mein Herz raste. »Westry!«, rief ich, so laut ich konnte. »Westry!«
Nichts rührte sich, und ich befürchtete schon das Schlimmste.
Ich rannte zurück zur Kantine, wo die Männer noch beim Essen zusammensaßen, und entdeckte Elliot in der Nähe des Eingangs. Als sich unsere Blicke begegneten, winkte ich ihn unauffällig zu mir.
»Anne? Was gibt’s?«, fragte er und zog sich die Serviette aus dem Hemdkragen.
»Westry«, flüsterte ich. »Er ist verprügelt worden. Von Colonel Donahue. Er ist in seinem Zimmer. Vielleicht ist er bewusstlos.« Meine Worte überschlugen sich fast.
Elliot machte große Augen. »Ich seh mal nach«, sagte er, stieß die Tür auf und rannte los.
Ich wartete vor dem Gebäude, schaute immer wieder zum Fenster im ersten Stock hoch und versuchte, einen Blick ins Zimmer zu erhaschen. Schließlich ging die Tür auf, und Elliot kam heraus.
»Er ist ziemlich übel zugerichtet worden«, sagte er. »An der Stirn hat er eine Platzwunde, die genäht werden muss.«
»Und warum kommt er nicht raus?«, fragte ich.
»Er will nicht«, erwiderte Elliot.
»Ich verstehe das nicht. Warum hat Colonel Donahue ihm das angetan?«
»Er will nicht darüber reden«, sagte Elliot und schaute zum Lazarett hinüber. »Aber es muss etwas ziemlich Schlimmes vorgefallen sein. Irgendetwas stimmt da nicht.«
Ich rieb mir die Stirn. »Könnten Sie ihn nicht doch dazu überreden, ins Lazarett zu kommen, damit die Wunde genäht werden kann?«
Elliot nickte. »Ich versuch’s«, erwiderte er und öffnete die Tür.
»Danke«, sagte ich. »Und, Elliot?«
»Ja?«
»Sagen Sie ihm, er fehlt mir.«
Elliot grinste. »Das wird ihm gefallen.«
Kittys Abendessen war längst kalt, als ich in unser Zimmer kam, aber es spielte keine Rolle. Sie wollte immer noch nichts essen.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte ich und streichelte ihr über die weichen Locken.
»Nein«, murmelte sie. »Ich will einfach nur allein sein.«
»Ist gut«, sagte ich ein wenig gekränkt. »Das verstehe ich.«
Die Sonne war untergegangen, und der Mond verbreitete sein fahles, zaubrisches Licht. Mein Blick fiel auf meinen Rucksack. Die Hütte . Mein Gefühl sagte mir, dass ich jetzt dort sein sollte.
»Kitty«, sagte ich leise, während ich ein Buch im Rucksack verstaute. »Ich gehe ein bisschen raus.«
Sie reagierte nicht, aber ich nahm es ihr nicht übel.
»Ich bin bald wieder zurück«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir.
Der Wind hatte zugenommen und zerzauste mein Haar, als ich über den Strand zur Hütte stapfte. Ich schloss die Tür auf und legte mich erschöpft aufs Bett. Die neue Decke, die ich in der Woche zuvor im obersten Regal unseres
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