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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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wollte.
    »Ich habe deinen Vater immer geliebt«, fuhr sie fort. »Aber mir ist schon vor langer Zeit klar geworden, dass er mich nicht liebte. Eigentlich hat er mich nie geliebt. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie ein Ehemann seine Frau lieben sollte.« Sie seufzte und betrachtete ihre Hände. »Tja«, sagte sie in ihrem üblichen barschen Ton, »lass dir das eine Lehre sein. Wenn du mal heiratest« – sie hob den Kopf und schaute mir in die Augen – »vergewissere dich, dass er dich liebt. Dass er dich wirklich liebt.«
    »Mach ich.«
    Sie ließ sich auf ihr Kissen sinken. »Du hast mir gar nicht erzählt, warum du nach Europa fährst.«
    Plötzlich konnte ich meine Mutter besser verstehen. »Was du über die Liebe gesagt hast, Mama – genau darum fahre ich nach Europa. Um mich zu vergewissern.«

15
    D er Reisecode des Geheimdienstes funktionierte genauso, wie Mary es gesagt hatte. Meine Hände hatten gezittert, als ich den Zettel vorgezeigt hatte, und ein junger Soldat hatte mich skeptisch von oben bis unten gemustert, aber als ich ihm den Namen Edward Naughton genannt hatte, hatte er mir ein Formular mit meiner Kabinennummer übergeben und mich durchgewinkt.
    Am letzten Tag der strapaziösen Schiffsfahrt, vollkommen erschöpft von tagelanger Seekrankheit, begann ich zu fürchten, dass ich die Reise womöglich vergebens un ternommen hatte. Selbst wenn ich es rechtzeitig zum Krankenhaus schaffte, würde Westry mich überhaupt sehen wollen? Mehr als ein Jahr war vergangen, seit wir uns in Bora-Bora auf der Landebahn verabschiedet hatten, und er hatte mir nicht ein einziges Mal geschrieben. Sicher, es dürfte angesichts der heftigen Kämpfe in Europa nicht einfach gewesen sein, aber er hätte es wenigstens versuchen können.
    »Wir werden in Kürze anlegen«, rief der Steward auf dem Gang. »Halten Sie Ihr Gepäck bereit.«
    Ich schaute aus dem winzigen Fenster. Durch den Nebel konnte ich vage den Hafen von Le Havre erkennen. Von dort aus war es nur noch eine kurze Zugfahrt bis Paris. Wieder kamen mir Zweifel. Was machte ich eigentlich hier? Es lag alles ein Jahr zurück. Ein sehr langes Jahr. Jagte ich vielleicht nur einem Traum hinterher, der längst ausgeträumt war? Ich nahm meine Tasche und schüttelte den Gedanken ab. Ich hatte es angefangen, jetzt würde ich es auch zu Ende bringen.
    Ich stand auf dem Boulevard Saint Germain und schaute an dem Haus hoch, in dem Mary wohnte – eindrucksvoll, mit kleinen Balkonen, auf denen Blumentöpfe mit hübschen Pflanzen standen. Hinter den Fenstern flackerte Kerzenlicht. Ich fragte mich, was für ein Leben Mary während der Besatzungszeit hier geführt hatte und wie ihre Geschichte mit Edward sich entwickelt hatte. Hatte der Brief alles geändert? Hatte er sich wieder mit ihr versöhnt? Waren sie zusammen glücklich geworden? Es war schon spät, beinahe zehn, aber überall waren Menschen unterwegs, saßen in Cafés und Restaurants. Liebespaare schlenderten Arm in Arm über den Bürgersteig. Dennoch erinnerten hier und da Spuren an den Terror, unter dem die Stadt gelitten hatte. Neben einem Mülleimer lag eine zerrissene, halb verbrannte Naziflagge. Die grüne Markise einer Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite war zerfetzt, und die Fenster waren mit Brettern zuge nagelt. An der Tür baumelte ein gelber Davidstern.
    Ich betrat das Gebäude und klopfte an Marys Wohnungstür. Einen Augenblick später hörte ich Schritte, die sich näherten, dann wurde die Tür aufgerissen.
    »Anne!«, rief Mary. »Da bist du ja!«
    Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich meiner alten Freundin um den Hals fiel. »Ich kann es selbst kaum glauben«, sagte ich.
    »Du bist bestimmt erschöpft von der langen Reise«, sagte Mary.
    Ich holte tief Luft und wappnete mich. »Mary, ich muss es wissen. Wie geht es Westry? Hast du ihn in letzter Zeit gesehen?«
    Mary senkte den Blick. »Ich war schon ein paar Tage nicht mehr im Krankenhaus«, antwortete sie leise. »Aber er wurde sehr schwer verwundet. Er hat mehrere Kugeln abbekommen.«
    Mir wurde ganz flau. »Ich könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren, Mary.«
    Mary legte mir einen Arm um die Schultern. »Komm erst mal rein«, sagte sie. »Deine Tränen kannst du dir für morgen aufheben.«
    Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie zwei Lampen anschaltete und mir bedeutete, mich aufs Sofa zu setzen. Das Sofa hatte vergoldete Verzierungen, und an den Wängen hingen Seidentapeten.
    »Wie schön ihr es habt«, murmelte ich,

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