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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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immer noch mit den Gedanken bei Westry.
    Mary zuckte die Schultern. Sie wirkte irgendwie fehl am Platz in dieser Wohnung, wie ein kleines Mädchen im Abendkleid der Mutter. »Ich werde nicht mehr lange hier sein«, erwiderte sie knapp. »Möchtest du ein Sandwich? Ein Croissant?« Mir fiel auf, dass der Verlobungsring an ihrer linken Hand fehlte. Instinktiv bedeckte ich den mit einem großen Diamanten geschmückten Ring an meinem Finger und erinnerte mich plötzlich daran, wie ich ihn auf der Insel versteckt hatte.
    »Nein danke«, sagte ich. Irgendetwas war anders an Mary. Sie trug ihr blondes Haar noch genauso wie früher. Beim Lächeln achtete sie immer noch darauf, ihre schiefen Zähne zu verbergen. Aber ihre Augen … ja, ihre Augen hatten sich verändert. Ich entdeckte tiefe Traurigkeit in ihnen und wollte unbedingt Marys Geschichte hören.
    »Und was ist mit Edward?« Der Name hallte im Zimmer wider, und kaum hatte ich ihn ausgesprochen, bedauerte ich es auch schon.
    »Es gibt keinen Edward«, sagte Mary tonlos und schaute aus dem Fenster auf die glitzernden Lichter der Stadt. »Nicht mehr.« Sie wandte sich mir wieder zu. »Hör zu, ich würde lieber nicht darüber reden, wenn es dir nichts ausmacht.«
    Ich nickte. »Ich kann mir denken, dass du hier Schlim mes durchgemacht hast – ich meine, während der Be satzungszeit.«
    Mary fuhr sich mit der Hand durch das dünne Haar. »Es war einfach grauenhaft, Anne«, sagte sie. »Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch hier bin, als Amerikanerin. Zum Glück habe ich auf dem College Französisch gelernt. Die Papiere, die Edward …« Sie räusperte sich. »Die Pa piere, die Edward für mich hat ausstellen lassen, haben mich geschützt. Ich kann kaum fassen, dass ich nicht geschnappt wurde, wo ich doch die Resistance unterstützt habe.«
    »O Gott, das klingt beängstigend! Du bist wirklich sehr mutig, Mary!«
    Ihre Augen blickten traurig in die Ferne. »Die Nazis mit ihren ständigen Razzien«, fuhr sie fort, »die unablässige Angst, verhaftet zu werden, wenn man nur ein falsches Wort sagte oder an der falschen Stelle nieste. Und dann die armen Juden, die aus ihren Häusern geholt wurden.« Sie zeigte auf die Tür. »Hier im Haus wohnten drei jüdische Familien. Wir haben versucht, sie zu retten.« Sie hob hilflos die Hände. »Aber wir sind zu spät gekommen. Der Himmel weiß, ob sie je wieder zurückkommen werden.«
    Ich schluckte. »Ach, Mary.«
    Sie schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerungen zu verscheuchen, dann zog sie ein Taschentuch heraus. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich dachte, mit dir würde ich über das alles reden können, aber ich fürchte … ich fürchte, es tut einfach zu weh.«
    Ich nahm ihre Hand. An ihrem Handgelenk fiel mir eine feine, rosafarbene Narbe auf. Erinnerungen an Bora-Bora kamen hoch. »Also gut«, sagte ich, »lass uns nicht über die Vergangenheit reden.«
    Mary seufzte. »Ich fürchte, sie wird mich mein Lebtag verfolgen.«
    »Aber die Stadt ist verschont geblieben«, sagte ich, um etwas Positives zu äußern.
    »Ja«, sagte sie. »Es ist unglaublich. Eine Zeit lang dachten wir, es würde alles in Flammen aufgehen und wir gleich mit.«
    »Mary«, fragte ich vorsichtig, »wie bist du überhaupt hier gelandet? Bist du hergekommen wegen … wegen des Briefs, den ich dir gegeben habe, als du Bora-Bora verlassen hast?«
    Sie rang die Hände in ihrem Schoß. »Wenn die Antwort so einfach wäre«, sagte sie wehmütig. »Nein, es war dumm von mir hierherzukommen.«
    Einen Moment lang wünschte ich, ich hätte ihr den Brief nie gegeben und ihr das alles erspart. Aber ohne den Brief wäre Mary nicht in Paris gewesen. Sie hätte Westry nicht gefunden. Sie hätte mich nicht angerufen.
    »Wo willst du denn von hier aus hin?«, fragte ich und hoffte, etwas in ihrem Gesicht würde mir sagen, dass alles gut werden würde – ein Funkeln in den Augen, ein angedeutetes Lächeln.
    Aber sie schaute nur ernst aus dem Fenster. »Ich weiß es noch nicht.«
    Die Lichter von Paris glitzerten, und mir wurde warm ums Herz, als ich an Westry dachte. Er war irgendwo hier, vielleicht ganz in der Nähe.
    »Kommst du morgen mit ins Krankenhaus? Ich bin so furchtbar aufgeregt. Wie es wohl sein wird, ihn nach … all der Zeit wiederzusehen.«
    Einen Moment lang hellte Marys Miene sich auf. »Natürlich komme ich mit«, sagte sie. »Stella ist übrigens auch in Paris.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Seit einem Monat.«
    »Und Will?«
    »Der auch. Sie heiraten

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