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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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in einem Monat.«
    »Wie schön!«, rief ich aus. »Ich würde Stella so gern wiedersehen!«
    »Die beiden sind mit dem Zug für ein paar Tage in den Süden gefahren«, sagte Mary. »Sie wird enttäuscht sein, wenn sie hört, dass sie dich verpasst hat.«
    »Um wie viel Uhr müssen wir uns morgen früh auf den Weg machen?«
    Wieder schaute Mary aus dem Fenster. »Die Besuchszeit fängt um neun an. Wir können mit dem Taxi hinfahren. Aber jetzt solltest du dich schlafen legen. Dein Zimmer ist den Flur runter, zweite Tür links.« Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Mundwinkel wollten ihr nicht ge horchen.
    »Danke, Mary«, sagte ich und nahm meine Tasche.
    Ich ließ meinen Blick noch einmal durch das Wohnzimmer wandern. Mary saß reglos auf dem Sofa und schaute aus dem Fenster.
    Irgendetwas war hier passiert, hier, in diesen Räumen. Es musste etwas Entsetzliches gewesen sein, ich spürte es ganz deutlich.
    Das First U . S . General Hospital erhob sich vor uns, und ich drückte Marys Hand, als wir die imposante Fassade betrachteten. Die Sonne schien, aber die Straßen um das Gebäude herum lagen im Schatten.
    Ich schluckte. »Warum wirkt es so …«
    »Gruselig?«
    »Ja«, sagte ich, während ich die Fenster im obersten Stockwerk absuchte.
    »Weil hier schlimme Dinge passiert sind, bevor die Alliierten kamen«, sagte Mary.
    Sie erklärte mir, dass das zwölfstöckige Gebäude, in dem früher das Hôpital Beaujean untergebracht war, von den Nazis für ihre Zwecke missbraucht worden war. Nach der Befreiung hatte Major General Paul Hawley, ein Chirurg, die medizinischen Gerätschaften, die die Nazis benutzt hatten, um grauenhafte Experimente vor allem an polnischen Juden durchzuführen, aus dem Gebäude entfernen lassen. Am obersten Stockwerk hatte er ein großes rotes Kreuz an die Wand malen lassen, ein Kreuz, das mich eher an ein Kampfflugzeug erinnerte.
    Mary zeigte auf ein Fenster im siebten Stock. »Siehst du das Fenster da?«
    Ich nickte.
    »In dem Zimmer habe ich eine Polin mit ihrem Säugling gefunden«, sagte sie. »Verhungert. Die Nazi-Ärzte hatten Mutter und Kind für einen Menschenversuch benutzt. Durch ein Fenster haben sie zugesehen, wie die beiden langsam gestorben sind, und den ganzen grausigen Prozess dokumentiert. Die Frau war nach neun Tagen tot, das Kind nach elf.«
    Mir lief es eiskalt über den Rücken.
    »Aber der Schrecken ist vorbei«, sagte Mary. »General Hawley hat das Krankenhaus säubern und komplett neu einrichten lassen. In den letzten zwei Wochen sind fast tausend Patienten aufgenommen worden, und es kommen jeden Tag mehr dazu.«
    Ich konnte den Blick nicht von dem Fenster im siebten Stock abwenden.
    »Anne?«
    »Ja?«, murmelte ich.
    »Meinst du, dass du das verkraftest?«
    »Ich hoffe es.«
    Gemeinsam betraten wir das Krankenhaus. Drinnen war es düster, und die Luft war stickig. Es war, als hätten die unfassbaren Gräueltaten, die hier verübt worden waren, das Gebäude selbst für alle Zeiten besudelt. Man konnte die Wände schrubben und die Böden scheuern, aber der Geruch des Bösen blieb haften.
    Wir stiegen in den Aufzug und fuhren in den neunten Stock hoch. Meine Gedanken rasten, während ich zusah, wie die Ziffern nacheinander aufleuchteten. Erster Stock, zweiter Stock. Würde er bei Bewusstsein sein und mich erkennen? Dritter Stock. Ob er mich noch liebte? Vierter Stock. Wie würde es mit uns weitergehen?
    »Ach, Mary«, sagte ich und klammerte mich an sie. »Ich hab solche Angst.«
    Sie wischte meine Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Es war richtig, dass du hergekommen bist«, sagte sie. »Egal, was passiert, du wirst Klarheit bekommen.«
    Ich seufzte. »Hast du mit Kitty gesprochen?«
    Mary wirkte ein bisschen verlegen, woraus ich schloss, dass sie wusste, was sich auf der Insel zwischen Kitty und mir abgespielt hatte.
    »Es gibt etwas«, sagte sie nervös, »das ich dir erzählen muss. Nachdem ich dich angerufen habe …«
    Der Aufzug hielt im fünften Stock, und ein Arzt und zwei Schwestern stiegen ein, sodass wir nicht weiterreden konnten.
    Als wir im neunten Stock ausstiegen, stockte mir der Atem. Mehrere hundert Männer lagen auf Pritschen im Korridor, bedeckt mit grünen Wolldecken.
    »Auf dieser Station liegen eine Menge schwere Fälle«, sagte Mary.
    Mein Herz pochte. »Wo ist er?«, fragte ich, während ich mich fieberhaft umsah. »Bring mich zu ihm, Mary.«
    Eine Schwester, etwa in meinem Alter, kam uns entgegen und nickte Mary mit ernster Miene zu.

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