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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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bündelten, bis es sich wieder lockerte und ihr in den Nacken fiel, an den Hals, der Ästen auswich, um sich dann auf den Lichtungen oder im freien Feld zwischen rot schimmernden Farnen zu strecken. Ich erinnere mich an Bilder, nicht an Worte, und wenn sie mich damals gefragt hätten, die Leute vom Jugendamt, die Psychologen, Johannas Mutter oder die Alten auf den Bänken, was hätte ich ihnen sagen sollen? Dass Johannas Haut schimmerte wie ein Chitinpanzer, dass sie sich lautlos im Wald bewegte, dass ich gebannt auf den Herzschlag gestarrt hatte, der in ihren Schläfen pochte, und ich mir im nächsten Augenblick nicht mehr sicher war, ob es nicht doch das Zucken der Drüsen auf dem Körper des Frosches war, der in ihrer offenen Hand saß, dass sie manchmal innehielt, den Kopf zur Seite legte und lauschte, dass dann ein Vogel schrie. Nicht sang, nichts signalisierte, sondern wirklich schrie?
    Wenn uns das T-Shirt am Rücken klebte und wir uns immer öfter bückten und Stiche an den Beinen aufkratzten, überquerten wir die Straße und kehrten zurück in den Wald. Wir folgten den Tierspuren durch die Reihen sterbender Nadelbäume. Auch hier bewegte sich Johanna lautlos und sicher, fand, ohne zu suchen, Schlupflöcher zwischen Brombeerhecken,brach nie ein in den doppelten Boden aus abgerissenen Ästen und altem Laub. Wir durchforsteten den Wald in alle Richtungen, mit der Zeit entwickelte auch ich einen Blick für die vielen scheinbar unsichtbaren Wege und Stege. Am späten Vormittag hielten wir Ausschau nach einem irgendwie besonderen Platz für die Mittagspause. Ein besonderer Platz war eine Lichtung, die von ausladenden Baumkronen wie von einem Baldachin überschattet wurde. Manchmal, wenn wir sehr hungrig waren, genügte unseren Anforderungen auch ein abgeflachter Stein. Johanna bestimmte dann: »Hier machen wir Pause«, und holte die Brotzeit, die Frau Luger für uns zubereitet hatte, aus ihrer Plastiktüte. Es waren vollendet belegte Brote mit Salatblättern, Gurken und Tomaten, einer Schicht Kräutercreme, etwas Käse und Schinken. Der Anblick dieser Brote, der gebauschten Servietten, die um sie herum drapiert waren, bedrückte mich. Dass sich jemand in belegten Broten ausdrückte, war lächerlich und traurig zugleich.
    »Schmeckt’s dir nicht?«, fragte Johanna.
    »Nein, im Gegenteil, sie sind so perfekt. Sie hat sich wirklich viel Mühe damit gemacht.«
    Johanna lächelte sarkastisch.
    »Sie hat ja auch sonst nichts zu tun«, sagte sie, und ohne nachzudenken, einfach weil ich es mir wohl schon so oft gedacht hatte, es aber nie auszusprechen gewagt hatte und weil ich Frau Luger verehrte, sagteich: »Du bist verwöhnt.« Worauf Johanna ebenso schnell entgegnete: »Und du hast keinen Stolz, lässt dir von meiner Mutter Pausenbrote machen.«
    Sie stand auf, knüllte das Einwickelpapier zusammen, stopfte es in ihre Plastiktüte und verschwand im Wald.
    Johanna hatte recht. Ich habe keinen Stolz. Ich nehme, was ich bekommen kann. Doch da war noch etwas anderes, das spürte Johanna, etwas, das sich über diesen mangelnden Stolz erhob: Ich verstand ihre Mutter.
    Natürlich war Frau Luger mir wie allen anderen Hinterlandbewohnern immer schon aufgefallen. Einer der Alten auf den Bänken hatte einmal gesagt, die Lugerin sei eine Erscheinung. Und obwohl das, was aus den Mündern der Alten auf den Bänken kommt, nie nett gemeint ist, so ist es doch das richtige Wort, um Frau Luger, die Frau Luger, mit der man nicht sprach, die man zwar grüßte, man will sich ja nichts nachsagen lassen, mit der man aber nicht warm wurde, zu beschreiben. Natürlich brauchte Frau Luger das Hinterland, um eine Erscheinung sein zu können. Sie brauchte insbesondere die Hinterlandfrauen, deren Stirnbänder, Kurzhaarschnitte und sportive Synthetikkleidung. Erst zwischen diesen praktischen Frauen, die ihre Einkäufe in Bastkörben durch die Fußgängerzone schaukelten, konnte Frau Luger zurErscheinung werden. Sie war immer unpraktisch, den Härten des Hinterlandklimas nicht gemäß gekleidet. Sie trug weitschwingende, mit leuchtenden großen Blumen bedruckte Röcke, schmal gewickelte Blusen dazu und dünne Strickjäckchen, die es, wie die Frauen im Mütterverein sagten, »auch nicht mehr rausrissen«. Als Kind hatte ich lange über diese Formulierung nachgedacht; ich wusste, dass, hatte man ein Zeugnis mit lauter Vieren, Einsen in Religion und Musik es auch nicht mehr rausrissen; trug man im Februar, wenn am Straßenrand sich links und rechts die

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