Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
an der Tür verabschiedete, bat Frau Luger mich, noch kurz hereinzukommen. Oft hatte sie irgendeinen kulinarischen Vorwand, mit dem sie lockte, einen Kuchen, der unbedingt wegmüsse, oder die selbstgemachte Bärlauchcreme, mit der sie stillschweigend das Versorgungsnetz ihrer belegten Brote auch über mich ausbreitete. In ihrer mutteruntypischen, unsicheren und aufgeregten Art erzählte sie mir vom Bärlauchsammeln. »Riech mal, Annemut, riech mal! Ist das nicht unglaublich, dieser Geruch, nach Winter, wo man gar nicht richtig einatmen will,weil die Luft so kalt ist und weh tut in der Nase? Und auf einmal, kaum ist der Schnee weg. – Oh, ich liebe diesen Geruch!« Ich probierte die Creme und machte Geräusche, die ich normalerweise nicht machte, auch dann nicht, wenn mir etwas sehr schmeckte, aber bei Frau Luger schien es mir angebracht, diese Geräusche zu machen, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie freute sich so sehr, dass es fast ein bisschen peinlich war und ich sofort ja sagte, als sie vorschlug, Johanna am nächsten Morgen auch ein Brot mit der Creme für mich mitzugeben. Von da an hatte Johanna immer auch Proviant für mich dabei.
Ich hatte keinen Impuls verspürt, Johanna aufzuhalten, als sie jähzornig einfach weggegangen war. Jetzt kam sie zurück, keuchend, rote Flecken auf den Wangen.
»Komm, Annemut, komm! Ich muss dir was zeigen!« Und weil es immer magisch war, wenn Johanna außer Atem geriet, wenn sie »Komm, komm!« schrie, weil man sich dem nicht entziehen konnte, folgte ich ihr. Sie zeigte mir die Wasserfälle. »Das war’s noch nicht, wir müssen hier seitlich hochklettern!« Und sie hing schon einen Meter über mir: »Du musst aufpassen, Annemut, die Steine sind glitschig, aber ich hab den perfekten Steig gefunden, kletter mir einfach hinterher, ja?! Du wirst es nicht glauben, Annemut! Es ist der Wahnsinn!« Sie schrie gegen die Wasserfällean, und ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Augen, alles war nass und funkelnd. »Na, was sagst du, Annemut?« Sie griff sich in den Nacken und zog sich ihr T-Shirt über den Kopf. Sie lief auf und ab, suchte eine geeignete Einstiegsstelle in das Bassin, doch das Wasser war zu dunkel, selbst am Rand konnte man den Grund nicht sehen. »Ach, es ist sicher tief genug«, schrie sie und sprang – kopfüber.
Wir strampelten, machten ein paar hektische Züge und ließen uns dann, auf den Rücken gedreht, treiben. Das Becken lag im Schatten der Felswand, die am anderen Ufer steil aufragte. Lange würden wir es nicht im Wasser aushalten, es war zu kalt. Während ich mich umdrehte, um nach Johanna zu schauen, sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich an der Wand etwas bewegte. Der Brahmane saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Felsvorsprung. Johannas Gesichtsausdruck verriet, dass sie ihn auch gerade entdeckt hatte. Sie schwamm hinter den Wasserfall, ich folgte ihr.
»Scheiße, jetzt müssen wir warten, bis er weg ist«, schrie sie. »Was will der hier?«
Nach einer halben Stunde stand er endlich auf. Unter anderen Umständen hätte ich Johanna auf die Leichtigkeit und Eleganz hingewiesen, mit der er die Wand hochkletterte. Doch wir waren beide durchgefroren, ich klapperte mit den Zähnen. Steif und mit blauen Lippen stiegen wir ans Ufer.
Nachdem wir den Wasserfall entdeckt hatten, war die Zeit des ziellosen Herumstreunens im Wald vorbei. Rituale entstanden. Routiniert kletterten wir die Felsen am Wasserfall hoch, schweigend durchschwammen wir das Bassin, drehten uns auf den Rücken, kniffen die Augen zusammen, tauchten unter. Immer wieder schauten wir hoch zu dem Absatz, wo er gesessen hatte. Als wir uns nicht mehr sicher waren, ob wir ihn wirklich jemals dort gesehen hatten, wurde es Teil des Rituals. Wir gewöhnten uns ans Nacktsein, kauten tropfend unsere belegten Brote und streckten uns dann auf den flachen Steinen aus. Wir fingen große, wichtige Gespräche an und schliefen ein, bevor wir auch nur eines zu Ende gebracht hatten.
Am späten Nachmittag kehrten wir gähnend in den Wald zurück. Wenn die Koppel in Sichtweite kam, fragte Johanna: »Sky?«Und ich sagte: »Ja, Sky.«
Wir schlurften die Bundesstraße entlang, wehrten die Autos, die stehen blieben und uns mitnehmen wollten, ab und bogen in die Ausfallstraße Richtung Campingplatz/Mülldepot ein. Spätestens hier wurden wir wachsam und angespannt wie Jagdhunde, denn es galt, an den Fußballfeldern vorbeizukommen, die sich nur wenige Hundert Meter nach der Abzweigung rechts des Wegs
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