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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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sei ihr Gemahl. Weil man Jungfrauen nicht verbrennen durfte, sollte sie zuerst vergewaltigt werden. Man befahl ihr, sich auszuziehen. Doch ihre langen Locken umhüllten sie wie ein dichter Mantel, und ein Engel brachte ihr ein Lichtgewand, von dem das ganze Haus durchstrahlt wurde.« Johanna hatte es mir langsam und gewissenhaft damals im Gartenhaus vorgelesen. »Noli me tangere.« Und da erschien der Engel tatsächlich. Er trug ein ordinäres schwarzes Spitzennegligé, hatte einen ausgefransten Mund und müde Augen, aber makellose bronzefarbene Hautund schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. »Puttana«, zischte der Engel und führte den erigierten Geliebten ab.
    Der Mann und sein Engel verließen das Hotel umgehend. Ich hörte, wie ihre Koffer gegen die Türrahmen stießen. Der Engel flüsterte unaufhörlich, schluchzte, dann brach seine Stimme und kippte in eine höhere Tonlage, die er allerdings nicht halten konnte. Ich drückte mein Gesicht gegen die Zimmertür. Wie ein angeschossenes Tier lag ich da und folgte den Geräuschen, die sich immer weiter entfernten. Ich musste mich nur genügend anstrengen, dann konnte ich ihnen überallhin folgen, redete ich mir ein. Doch bald schon war die Stille nicht mehr zu überhören, sie waren fortgegangen, ich fühlte mich verlassen. Noch immer lief Blut von der Nase in den Mund, ich schluckte und schluckte.
    Nach zwei Tagen unterzog ich mein Gesicht einer gründlichen Betrachtung im Badezimmerspiegel: Es war wuchtig und unzerstörbar. Die
     Schwellungen schillerten in Hellblau und Violett. Ich trug das Gesicht ins Tageslicht, hielt es auf den Boulevards und den plötzlich sich auftuenden
     Plätzen den Touristenmassen entgegen. Es hielt selbst den argwöhnischen Blicken der italienischen Omas stand, die wie dicke Katzen in den Plastikstühlen
     vor ihren kleinen Geschäften saßen und sich nur missmutig erhoben,um mit trägen Bewegungen das Obst und Gemüse ihrer Kunden zu
     wiegen. Alle wichen mir aus, sogar die jungen italienischen Männer verstummten und wussten nicht, wohin mit ihren Blicken, als ich an den langen Reihen
     geparkter Vespas, auf denen sie ihre schmächtigen Körper dekorierten, vorbeistolzierte. Ich trug mein zerschlagenes Gesicht stolz wie einen prachtvoll
     verzierten Schutzschild vor mir her, und alle, die jungen Männer und die alten Frauen, die jungen Frauen und die alten Männer, ja selbst die Kinder
     senkten den Blick wie vor etwas Heiligem. Ich blickte aus den Schlitzen meiner geschwollenen Lider auf jeden von ihnen. Zum ersten Mal konnte ich sie
     begutachten, so wie sie mich begutachtet hatten, von oben nach unten und wieder zurück, konnte wie sie meine aufgesprungenen Lippen kräuseln und mit
     Blicken Noten für die Beschaffenheit ihrer Körper verteilen. Keiner wagte es, mich anzusprechen. In den Geschäften behandelten sie mich schnell und
     zuvorkommend, betrat ich eine der vollgestopften Trattorias, wichen die Leute zurück, drückten sich an die Wand, so dass ein Gang entstand, durch den ich,
     ohne einen von ihnen berühren zu müssen, den Raum betreten konnte, und es vergingen keine fünf Minuten, dann wurde auf unerklärliche Weise ein Tisch frei,
     ich setzte mich, niemand nahm Anstand daran – ein fast leerer Tisch in einer vollgestopften Trattoria.
    Der Mann und sein Engel hatten mir zwei Bündel Lira hinterlassen. Sie hatten versucht, sie durch den Türschlitz zu schieben, doch sie waren zu dick, sie blieben darin stecken, und ich bemerkte sie erst, als ich das Bettzeug von der Tür entfernte. Auf dem obersten Schein stand, mit dünnem Kuli öfter nachgezogen: »Scusi«. Ich zählte das Geld mehrere Male, notierte mir die vielen Nullen, teilte, auch das mehrere Male, weil mit einem Mal eine Aufregung da war, die ich lange nicht gekannt hatte und die mich jetzt so in Beschlag nahm, dass es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren. Ich hatte mein Geld, das ursprünglich für sechs Wochen ausgelegt war, wegen der langen Hotelaufenthalte – seit Wien hatte ich mich geweigert, nochmals eine Jugendherberge oder ein Hostel zu betreten –, bereits nach zwei Wochen aufgebraucht. Rom wäre meine letzte Station gewesen, und ich war auch froh darüber. Dieses Reisen, falls man das überhaupt so nennen konnte, machte alles nur schlimmer. Ich genoss es keinen Augenblick. Wenn ich es mir genau überlegte, waren die Abende bei geöffneten Fenstern, alleine in meiner kleinen Wohnung, die Abende, an denen ich mir Buchtitel und

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