Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
Marienstatue, das eingetrocknete Weib mit seiner vermaledeiten Leibesfrucht, lange nicht, sehe zuerst nur die Männer, alte und junge, die weißen Hemden durchgeschwitzt, darunter die gerippten Unterhemden, der Schweiß läuft ihnen in die Augen, sie kneifen sie zusammen, manchmal können sie sich trotz aller Heiligkeit ihrer Reflexe nicht erwehren und fahren sich mit der Hand ins Gesicht, Maria, Jungfrau und Gottesgebärerin gerät dann auf ihrer Trage ins Wanken. Sie haben das Portal halb durchschritten, die alten Frauen zerknüllen vor Anspannung die Stofftaschentücher in ihren Händen, sie unterdrücken ein Jubeln, sie wissen, dass die Maria hier in Castellammare del Golfo nicht einfach so die Kirchentorschwelle überqueren wird, dass es einKampf sein muss, ein Vor und Zurück, ein gewaltiger Zeugungsakt mit den durchgeschwitzten Hemden ihrer Ehemänner und Söhne. Und tatsächlich: Als die Trage das Tor zur Hälfte passiert hat, bleiben die Vordermänner ruckartig stehen, die Männer hinter ihnen, noch immer rosenkranzbewegt, laufen auf, stolpern, sie fallen nicht, da ist kein Platz zu fallen, doch der Holzbalken droht von ihren Schultern zu rutschen, die Madonna in ihrer goldgefassten Glasvitrine schwankt, Gesichtszüge entgleisen, Kinder stecken sich ihre dreckigen Finger in den Mund, die Schrecksekunde ist durchgestanden, die Träger finden ihr Gleichgewicht wieder und mit ihnen Maria, Mutter Gottes, der Holzbalken drückt sich zurück in die Kuhle zwischen Schulter und Schlüsselbein. Tastend setzen sie Schritt um Schritt, über den Stufen schweben ihre Füße einen prekären Augenblick lang, die Anstrengung lässt Halsschlagadern hervortreten. Die Trage schiebt sich langsam zurück in die dunkle leere Kirche, die Jungfrau verbirgt sich erneut, weint ab und an eine Träne aus Blut, um das schlechte Gewissen bis zum nächsten Jahr sicherzustellen. Die alten Frauen fangen schon damit an, machen zierliche Fäustchen, mit denen sie sich gegen die Brust schlagen durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld, auch die Kinder haben schon eine Schuld, deren sie sich jetzt bedienen können, ihre Kinderfäustchen sind noch eifriger zu Eingeständnissen,die sie selbst nicht verstehen, bereit als die der Alten. Herr, ich bin nicht würdig, dass du einkehrst unter meinem Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Davon lässt sie sich dann doch erweichen, die Jungfrau, kommt zurück, wir halten wieder einmal den Atem an, sie könnte es sich ja doch noch einmal anders überlegen. Die Gemeinde, ihre Schuldiger können nicht mehr stillstehen, drängen nach vorne, Frank und ich werden mitgerissen.
Wir stehen nun in der ersten Reihe, direkt hinter dem rot-weißen Plastikband, das als Absperrung dient. Die vorderen Träger haben das Tor schon durchschritten, die Trage ist zur Hälfte sichtbar, das hintere Ende verbirgt sich noch im Dunkel der Kirche, die Heilige in ihrer Glasvitrine steht auf der Schwelle, noch unsichtbar in der Dunkelheit der Kirche, zögert sie. Die Stimme des Vorbeters fährt in die Reihen der aufgebrachten Gemeinde, stillstehen können sie trotzdem nicht, sie wollen der Angebeteten ganz nah sein, drängen weiter voran. Ich kann dem Druck von hinten nicht mehr standhalten, falle vornüber und reiße dabei die Absperrung, das rot-weiße Plastikband, mit. Ich knie auf allen vieren, die Hände flach auf dem Kopfsteinpflaster, spüre ich, wie die Steine unter den Füßen der drängenden Menschen beben und sich lockern. Frank greift mir unter die Achseln und zieht mich hoch. Verwundertbetrachte ich den Stein in meiner Hand und dann Franks Gesicht. Der stoische Ausdruck darin ist verschwunden. Er hat Angst, denke ich. Er starrt auf den Stein, und plötzlich verstehe ich.
»Nein!«, schreit er mich an, das Geräusch geht unter in dem hunderttausendsten Schuldbekenntnis, das diese Menschen an eine pastellfarbene Statue unter einem Glassturz richten, aber ich kann das »Nein!« in seinem verzerrten Gesicht ablesen. W er von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein, und ich werfe ihn. Ich verfolge seine Flugbahn, er wird auf der Trage landen, so viel sehe ich noch, ob er die gebenedeite Frucht erreicht und ihren Glaskasten zertrümmert, sehe ich nicht mehr. Frank, der, noch ehe ich selbst wusste, was ich tun würde, mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, packt meine Hand, und wir laufen. Wir laufen. Der menschengesäumte Korridor, der für die Madonna und ihre Träger
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