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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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meine Handinnenflächen geöffnet vor ihm schwebten. Da erst bemerkte er, dass sich mein Körper nicht für solch leidenschaftliche Gesten eignete.
    »Schuppenflechte«, diagnostizierte er, sein Griff lockerte sich augenblicklich.
    »Ich geh jetzt mal«, sagte ich und drehte mich so abrupt um, dass er dem Rucksack auf meinem Rücken nicht mehr ausweichen konnte. Er blieb wankend zurück.
    Ich mochte Frank nicht, doch die Selbstverständlichkeit, mit der er Befehle erteilte, imponierte mir. Was würde geschehen, dort in Castellammare del Golfo? Würde er mir sagen, was ich als Nächstes zu tun hatte, wohin ich gehen sollte? Es fühlte sich gut an, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein zu müssen. Insgeheim hoffte ich, dass auch Zorah und der Junge da sein würden, dass sie dort vor der Kirche mit einer Votivkerze in der Hand auf mich warten würden wie die Heilige Familie. Ich würde spät dran sein, müsste mich durch die dichten Reihen der andächtigen alten Frauen drücken, und Zorah, die ihren Kopf schon etwas in den Nacken gelegt hatte, um mich in der Masseausfindig zu machen, würde, nachdem ich etwas zerrupft schließlich vor ihr stehen würde, einen kurzen Tadel erteilen, sie würde sagen: Warum bist du denn nicht einfach früher losgegangen, doch sie würde es nicht lange aushalten, die Strenge zu spielen, würde Frank den Jungen übergeben, um mich in den Arm zu nehmen, und dann würde sie sagen: Schön, dass du da bist! Aber sie war natürlich nicht da, auch nicht der Junge, sondern nur Frank stand dort, ein Fremdkörper in den Reihen der alten Frauen, die ihn, da er offensichtlich ein Tourist war, gewähren ließen. Ich war frühzeitig da und beobachtete ihn aus der Entfernung. Er war die Ruhe selbst. Er würde sich nicht auf die Zehenspitzen stellen und den Kopf verdrehen, um nach mir Ausschau zu halten. Ich war enttäuscht. Er erwartete mich nicht. Er hatte mich aber auch nicht vergessen. Denn als ich schließlich neben ihm stand, war er nicht im Geringsten überrascht.
    »Wo ist Zorah?«, fragte ich bemüht gleichgültig.
    »Mit dem Jungen im Hotel geblieben. Sie findet, solche Prozessionen seien nichts für kleine Kinder.« Er lachte verächtlich.
    Aus den Lautsprechern, die man vor der Kirche aufgestellt hatte, um so die ganze Gemeinde am Gottesdienst teilhaben zu lassen, rauschte das Gemurmel der Betenden. Der Pfarrer hatte die Messe beendet, langsam erhoben sie sich aus den Bänken, ihr Blickhing in den Flammen der hohen Kerzen, die sie mit beiden Händen umfassten. Dicht gedrängt, setzten sie Fuß um Fuß, mit jedem Schritt entfernten sie sich weiter von den Kerzen in ihren Händen, von den Vorderleuten, die es nicht anzurempeln galt. Sie vereinzelten, formierten schlafwandlerisch Reihen, in denen sie wie Zombies das Kirchenschiff durchschritten. Das Getuschel der Gemeinde, das Geschrei ihrer Kinder auf dem Kirchenvorplatz und den angrenzenden Gassen verstummte, als das gleichmäßige Getrampel der Betenden im Innern der Kirche unheilvoll wie das Donnern einer weit entfernten Gerölllawine durch die Lautsprecher zu ihnen drang. Frank bemerkte die angespannte Stille. Sie machte ihn sofort wütend. Hier ging etwas vor sich, dessen Auswirkungen er zwar wahrnahm, das er selbst aber nicht spürte. Auch ich war sofort ergriffen worden. Die Atavismen des Hinterlands: sich ergreifen lassen müssen von Gemurmel und Schritten auf Steinplatten, von Aves und der nie endenden Kette der Selbstbezichtigungen im Rosenkranz. Franks Befehl »Wir gehen jetzt!« galt nichts neben ihrem Bekenntnis. Ich verstand es sofort, bewegte die Lippen dazu, stolperte an denselben Stellen, an denen ich schon als Kind hängengeblieben war – was ist ein eingeborener Sohn? – , sprach über die Verwunderung hinweg, weiter, immer im selben Rhythmus Ave, Maria, piena di grazia, il Signore è con te. Du bist gebenedeit unterden Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes – gebenedeit, Frucht, Leib, gebären –, ganze Gottesdienste lang hatte ich mich in diesen Wörtern verloren, ich hatte sie gefürchtet. Ich fürchtete sie noch immer, sie hatten nichts von ihrer Autorität eingebüßt. Ich senkte den Blick und bewegte sie vorsichtig wie fremdes Essen im Mund.
    »Ich ertrag diesen Hokuspokus jetzt schon nicht mehr, komm, wir gehen jetzt!«
    Ich ignoriere Frank.
    Mitten im Paternoster , wir haben unseren Schuldigern noch nicht vergeben, brechen die Kirchentüren auf. Ich sehe die

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