Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
beschloss, zu verreisen. Als ich zu Hause anrief und von meinen Reiseplänen erzählte, war meine Mutter erleichtert. Ich hatte mich wochenlang nicht gemeldet. Sie habe sogar zweimal auf den Anrufbeantworter gesprochen, sie hätten sich schon Sorgen gemacht, sagte sie, und viel hätte es nicht mehr gebraucht, dann wären sie ins Auto gestiegen und hätten nach mir geschaut. Italien, Spanien, Frankreich, sechs Wochen, Interrail. Ach so, mit dem Zug, ja, davon habe sie schon mal was gehört, das müsse man machen, wenn man jung ist, das meine auch der Vater. Ich erfand als Begleitung eine Studienfreundin, sie überwiesen sechshundert Mark, ich versprach, mich regelmäßig zu melden und auf dem Rückweg bei ihnen vorbeizuschauen.
8.
Es war meine erste Reise, und ich war nicht aufgeregt. Dem Ekel war Hass gefolgt, zäher, breiiger Hass, in dem ich herumwatete, in schweren Stiefeln, meinen angegammelten Rucksack auf dem Rücken.Ich hasste die anderen Interrailer, hasste ihre Tipps, ihr Vokabular, hasste, wie sie zusammensaßen, sich Walkmanstöpsel teilten und »Wahnsinn, das haut voll rein« sagten. Ich hasste auch alle anderen Menschen, besonders die Besucher der Kunstgalerien und hier insbesondere die Mädchen in meinem Alter, diese Kunstmädchen mit dem verklärten Blick, der zwischen den Bildern und ihrem Zeichenblock hin und her huschte. Mein Hass machte mich müde. Gleich nach meiner Ankunft in einer neuen Stadt bezog ich ein Zimmer in einer billigen Absteige in Bahnhofsnähe und verließ es während meines gesamten Aufenthalts nur noch einmal, um Essen zu besorgen. Egal, ob es Vormittag, Mittag oder Abend war, ich legte mich sofort schlafen. Ich wachte nur langsam und nie ganz auf. Passagen aus Reiseführern, laut vorgelesen von anderen Reisenden während langer Zugfahrten, hatten sich mir eingebrannt, verselbständigten sich im halbwachen Zustand und legten ein unerbittliches Repetitorium ab: von Altstädten mit lauschigen Plätzen und romantischen Cafés, von diesen und jenen Vierteln, die in den vergangenen Jahren zu florieren begonnen hätten, und immer wieder vom unvergleichlichen toskanischen Licht. Ich setzte mich in verdreckte Duschen, zog meine Knie an, blickte nach oben in einen lauwarmen Wasserstrahl, der so schwach war, dass er nicht zu reinigen vermochte. Das Wasser aus den verkalktenDuschköpfen löste den pappigen Schweißfilm auf meiner Haut, vermischte sich damit und lagerte sich dann als Pfützen in den Ausbuchtungen meines von Ekzemen entstellten Körpers ab. Ich hatte mir angewöhnt, meinen Körper als Landschaft zu betrachten. Das machte es erträglicher. Ich folgte mit den Augen den Spuren der Schweiß- und Wasserschlieren und fühlte die Trostlosigkeit dieser einmaligen Endmoränenlandschaft. Dann drehte ich das Wasser ab und legte sie, tropfend und durchweicht, in ein muffiges, viel zu heißes Bett, das Kopfschmerzen verströmte. Nach zwei Tagen stopfte ich meine Kleidung zurück in den Rucksack, machte mich auf zum Bahnhof, bestieg den nächsten Zug, auf in die nächste Stadt und das nächste geschmacklose Hotelzimmer. Wien, Florenz, Rom – überall dieselbe Scheiße, dachte ich, ließ die Rollos runter und atmete die besonders schlechte Luft rund um die Bahnhöfe ein.
Meine einzige Freude war es, den Paaren, die auch tagsüber ihr Zimmer nicht verließen, um ungestört zu ficken, die Stimmung zu versauen. Wenn ich durch die dünnen Wände oder die geöffnete Balkontür die ersten Geräusche vernahm, wartete ich genau drei Minuten, dann verließ ich das Zimmer und klopfte an die entsprechende Tür. Kein diskretes Klopfen, nein, ich schlug mit der flachen Hand gegen die Tür, so dass die Beschläge zitterten. Ich wartete eine halbe Minute und klopfte dann mit denKnöcheln meiner Faust so lange, bis ich ein erbostes Gezischel vernahm und das Gefühl, jegliche Lust getötet zu haben, warm in mir aufstieg. Dann ging ich zurück in mein Zimmer, schloss von innen ab, zog mich aus, ließ mich auf das durchgelegene Bett fallen und masturbierte, bis mir die Tränen übers Gesicht liefen und ich erschöpft endlich wieder einschlief. Ich wusste, dass das nicht ewig so weitergehen konnte, dass es bald knallen würde. Als es dann so weit war, nützte mir dieses Wissen nichts. Meine Hände, die ich, seit ich zehn war, immer zu Fäusten geballt mit mir herumtrug, um die abgekauten Fingernägel zu verbergen, hingen schlaff neben dem Jerseystoff meiner Jogginghose, während einen Meter weiter oben die
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