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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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anderes zu nichtklassischer Logik.
    Ich versuchte, die barocken Mysterienspiele nicht zu vernachlässigen, während ich im Eigenstudium die Kunstgeschichte des Orients nachholte. Ich wollte alles wissen. Ich wollte alles verstehen.
    Abends um sechs kehrte ich, den Fahrradkorb mit Büchern und Lebensmitteln bepackt, in meine kleine Wohnung zurück. Ich öffnete alle Fenster, zog meine Kleider aus und wickelte die Mullbinden von meinen Knien, Fuß-, Arm- und Handgelenken. Ich legte mich nackt aufs Bett. Ich genoss das leichte Ziehen an den Rändern der offenen Stellen, wenn ein Luftzug darüberfuhr. Die Schuppenflechte war so stark wie nie zuvor, bald würde sie das Gesicht erreichen, das spürte ich, an den Ohrläppchen juckte es bereits. Die Verkäuferin im Tante-Emma-Laden hatte mich gebeten, mich von den offenen Lebensmitteln fernzuhalten. Was das denn genau sei, was ich da habe, fragte sie besorgt, ob es von der Sünde käme. Erst später verstand ich, dass sie damit eine Geschlechtskrankheit meinte. Ich stotterte, dass es nicht ansteckend sei, Schuppenflechte, sie erzählte mir von Wallfahrten, ich ging seitdem zu Aldi. Ich mochte es, meine Stimme zu hören. Manchmal, wenn ich tagelang mit niemandem gesprochen hatte, las ich mir abends auf dem Bett liegend die Angaben auf den Lebensmittelverpackungen vor oder die Titel der Bücher. In der ersten Minute, wenn ich mich noch nicht an meine Stimme gewöhnt hatte, klang sie wie die eineranderen, rau und bedeutungsvoll, doch schon bei den Untertiteln war diese Wirkung verflogen. Man gewöhnte sich an alles viel zu schnell.
    Ich kollabierte Anfang Juni, nachmittags um halb vier. Ich war in der Cafeteria einer Gruppe Kommilitoninnen über den Weg gelaufen, sie wollten, dass ich mich zu ihnen setzte, wollten wissen, was los sei, warum ich mich nicht mehr meldete. Ich kollabierte innerlich, so dass niemand etwas bemerkte. Ich verabschiedete mich.
    »Ich fahre so ungern im Dunkeln mit dem Fahrrad heim«, erklärte ich ihnen. Sie hoben die Augenbrauen über ihre eckigen Brillengestelle.
    »Es ist vier Uhr nachmittags, aber okay, wenn du meinst, keine Angst, wir halten dich nicht auf!«, sagten sie eingeschnappt.
    Ich stand in den Pedalen die ganzen zwanzig Kilometer, als wäre der Sattel elektrisch geladen. Ich besuchte die Vorlesung über die Phönizier nicht, ich
     hatte sie einfach vergessen. Ich hörte nicht auf zu treten, auch als ich schon an dem Haus, in dem meine kleine Wohnung war, vorüber war. Der Fahrradweg
     verschmälerte sich nach und nach, irgendwann lief er ganz aus, ich stand auf einer stark befahrenen Bundesstraße, stieg ab und schob das Rad zurück. Als
     ich zu Hause ankam, war es dunkel. Ich schloss mein Fahrrad wie immer am Zaun an. Ich vergaß die Bücher und die Lebensmittel im Korb.
    Ich stand vor meiner Küchenzeile und konnte nicht aufhören, daran zu denken, dass mein Fahrrad heute in die andere Richtung geparkt stand. Ich sah, wie das Rücklicht in diese Richtung zeigte, wie Nacktschnecken und anderes Getier sich am Fahrradrahmen hochzogen, es war ein langsamer Aufstieg, vielleicht würden sie den vollbepackten Korb erst gegen Morgen erreichen. Sie würden sich in das schöne Blau der Haferflockenverpackung hineinwühlen und über den dottergelben Umschlag der Einführung in die Linguistik gleiten, anderes Getier war noch raffinierter, ungesehen durch winzige Löcher würden sie Eier und Maden in Milch, Haferflocken und Bananen legen, und wenn ich die Verpackungen öffnete, würde das aufgescheuchte Gewühl ihres Nachwuchses sich panisch winden. Ich übergab mich ins Spülbecken. Ich brauchte die Titel der Bücher und Lebensmittelverpackungen heute nicht. Ich schrie, heulte und wimmerte mich, als die Kraft nachließ, in den Schlaf. Als ich erwachte, dämmerte es bereits. Insekten schwirrten um die Zimmerlampe. Sie pendelten zwischen dem offenen Fenster, dem dahinterliegenden Draußen und dem abgenutzten Orange der Zimmerlampe wie auf einer zentralen Flugroute. Es kam mir bekannt vor. Ich hatte das schon einmal gespürt, schon einmal gesehen: das offene Fenster, das Dämmerlicht und die Insekten dazwischen. Ich versuchte mich zu erinnern, schlief darüber wiederein. Ich erwachte durstig, die Ahnung, ein Knäuel toter Insekten im Mund zu haben, der Geruch abgestandener Kotze im Spülbecken. Es war ein heißer Sommertag, ich hatte die »Marginalen Formen des Christentums: sektiererische Gruppierungen in der Frühen Neuzeit« verpasst, ich

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