Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
bestimmt war, ist jetzt unserer. Das Gezeter und die Tumulte links und rechts neben der Rennbahn gelten uns. Wir sind Marathonläufer auf der Zielgeraden. Wenn sich unsere Hände verlieren, weil ich schneller bin als Frank, dann suchen sie sofort nacheinander, und ich werde langsamer, um seine wieder greifen zu können. Wir schreien und lachen. Ich immer wieder: »Gebenedeit sei die Frucht deines Leibes«, und er: »durch meine Schuld, durch meine Schuld.« Ich bin so glücklich in diesen Minuten, so glücklichmit Frank, dass ich es ihm irgendwie zeigen möchte, ich drücke seine Hand fester und ziehe ihn näher zu mir, dabei stolpern wir fast und lachen noch immer hysterisch. Der Korridor beginnt sich aufzulösen, die Menschen werden weniger, sie stehen verstreut, unschlüssig, ob sie sich noch weiter Richtung Kirchplatz bewegen sollen oder nicht. Wir sind nun schon fast am Hafen, so weit entfernt von der Kirche, dass die Menschen hier noch nichts von dem Anschlag auf ihre Jungfrau mitbekommen haben. Wir laufen aus, bleiben stehen, drücken die Beine durch und keuchen. Wir lächeln uns an.
Ich war erleichtert, dass Frank nicht sofort anfing zu reden, er sagte nur: »Wir gehen jetzt wohin«, nahm meine Hand und führte mich zielstrebig die Hafenpromenade entlang zu einem unscheinbaren Gästehaus. Aus der Innentasche seines Rucksacks kramte er einen Zimmerschlüssel hervor. Er reichte ihn mir. Er hatte alles sorgfältig arrangiert: das Gästehaus in Hafennähe, wo die Prozession enden würde, den Zimmerschlüssel schon vorher abgeholt, so dass es jetzt nicht zu Verzögerungen im Ablauf kommen konnte. Während er die Reißverschlüsse an seinem Rucksack wieder zuzog, umständlich und sorgfältig, wie es seine Art ist, verachtete ich ihn wieder. Die Zuneigung, die ich empfunden hatte, als wir gemeinsam vor den Folgen meines Attentats davonrannten, und von der ich geglaubt hatte, siekönnte weiterbestehen, wenn er nur nicht wieder zu reden anfinge, war aufgebraucht. Er wird nicht einen Moment daran gezweifelt haben, dass ich komme, dachte ich. Ich war, was die Verwirklichung seiner Pläne, Ideen und Wünsche betraf, genauso plan- und organisierbar wie das bescheidene Gästezimmer, in dem wir jetzt standen. Ich hatte mich selbst nie als eine besonders verlässliche Größe erlebt, umso mehr imponierte es mir, mit welcher Selbstverständlichkeit Frank über mich verfügen konnte. Ich hatte das Zimmer kaum betreten, da wies er mich an, ins Bad zu gehen und zu duschen. Als ich zurückkam, war er bereits ausgezogen. Er saß aufrecht im Bett und musterte meine offenen Stellen. Aus Verlegenheit schaute ich mich im Zimmer um. Es war winzig, nahezu quadratisch und unverhältnismäßig hoch, wie ein Aufzugschacht. Es war vollgestopft mit viel zu großen, bunt zusammengewürfelten Möbeln. An der Wand über dem Kopfende des Bettes hingen ein kitschiges Gemälde von Jesus und den zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, eine Reihe verschiedener Papstporträts – Fotografien in Schwarzweiß – und darüber, bis knapp unter die Zimmerdecke, eine wildes Sammelsurium von Votivbildern, Ikonen und Heiligen in Pastellfarben. Sie hingen nebeneinander, ungeachtet ihrer Epochen, Größen und Stile.
»Was stehst du denn noch rum, komm endlich ins Bett.«
Das Fenster war gekippt, weit entfernt rauschte das Ave , ein Trampeln und Beben. Frank schaffte es, mit mir zu schlafen, ohne mich anzufassen.
9.
Morgengrauen. Kein Licht, das durchbricht. Die Dunkelheit dünnt aus, wird schwächer. Es wird hell. Ich kann die Ebene nicht mehr überblicken. Ich sehe einen Ausschnitt aus der Nähe. Ich erkenne, das Dunkel hat viele Schattierungen. Ich sehe Unebenheiten, Strukturen, kann Teile eines Hauses ausmachen. Die Balken, die einen Dachstuhl getragen haben, brennen nicht, sondern verglühen zu Ascheformen. Ein Wind zerstreut sie in funkelnde Partikel, die als Irrlichter über der Ebene wirbeln. Ich sehe die Ebene nun wieder aus großer Entfernung, sehe Rauch- und Rußwolken und weit hinten vor dem grauen Himmel eine helle Gestalt, die näher kommt. Die Helligkeit dieser Gestalt ist eine andere als die der Morgendämmerung. Diese Gestalt ist nicht nur einfach weniger dunkel, sie ist hell. Es ist ein Mädchen. Sie hat keine Menschenhaut, keine Poren, keine Härchen – nur die Form eines Körpers, aber nicht sein Material. Die Oberfläche ist durchscheinend, das Innere leer, ein Hohlkörper. Sie geht auf den verkohlten Balken des eingestürzten
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