Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
ab.«
Johanna wollte einfach nur tanzen. »Allein, mit dir«, sagte sie, und nach einer Pause: »Wir müssen uns diese Starrer vom Leib halten.«
In den frühen Morgenstunden, auf dem Weg zurück ins Hinterland, in der U-Bahn, am Bahnhof zwischen durchgefrorenen Alkoholikern, den fressanfälligen Bekifften am Hotdog-Stand und den unausgeschlafenen Leuten von der Bahnhofsmission, fing Johanna ihre Predigten an. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Sie sagte: »Ich habe alles verstanden.« So fing es an, und dann verkündete sie die Einsichten und Zusammenhänge, die sich ihr auf der Tanzfläche offenbart hatten, während ich geglaubt hatte, dass wir einfach nur tanzten. »Sie lauern an den Rändern, und dann, wenn sie genuggetrunken haben, greifen sie an. Sie tanzen nicht, sie tun nur so, sie wippen zwischen den Tanzenden, vom Rand aus haben sie sich schon eine ausgesucht, und wenn sie dann in ihrem Dunstkreis sind und man aus Versehen in ihre Richtung schaut, sind sie sofort zur Stelle und gehen nicht mehr weg. Sie machen alles kaputt. Annemut, ich will nichts mit denen zu tun haben, ich will nur mit dir tanzen.«
»Und was ist mit Severin? Der ist doch ganz in Ordnung«, versuchte ich sie zu beschwichtigen.
»Ja, der! Der ist ja auch DJ, der hat gar keine Zeit, rumzustarren.«
»Immerhin spielt er unsere Lieder, dann kann er doch so verkehrt nicht sein.« Sie überlegte kurz. »Vielleicht hast du recht, vielleicht kann er uns ja auch mal die Titel der Lieder, die wir nicht kennen, sagen, dann können wir sie uns auch besorgen.«
Wir blieben immer bis zum Schluss, bis das Licht anging und Severin zu uns kam. Er überreichte Johanna die Liste mit den gespielten Titeln. Sie nahm sie stumm entgegen und prüfte sie einzeln wie ein Buchhalter seine Posten. Wenn sie damit fertig war, schaute sie auf.
»Könntest du bitte die Prioritäten markieren? Wir können nicht alles auf einmal kaufen. Und vielleicht kannst du ja nächstes Mal die einzelnen Titel gleich mit Nummern versehen, also der Wichtigkeit nach geordnet, wäre das möglich?«
»Ja, das kann ich machen.«
Severin imitierte im Gespräch mit Johanna ihren Geschäftston, er war sehr durchsichtig, darunter lachte er und zwinkerte mir zu. Johanna schien das nicht zu bemerken. Sie war zu beschäftigt mit der Liste, den Titeln und ihrer Plastiktüte. Und obwohl sie immer als Erste die Arme hochriss und »Hang the DJ« schrie, fasste sie Vertrauen.
Manchmal, zwischen den Liedern – und Johanna wurde nicht müde, zu betonen, dass sie ja bei weitem nicht alles gut finde, was Severin da spiele –, pausierten wir. Wir standen zwischen Tanzfläche und Klokorridor, jede eine Flasche Bier in der Hand, Johanna nahm ihre extra in die linke, um mit ihrer freien Hand meine freie Hand umklammern zu können. Mir war das peinlich, wie zwei abmarschbereite Kindergartenkinder standen wir da. Johanna war überzeugt, auf diese Weise unerwünschte Annäherungsversuche abzuwehren. Sie kamen natürlich trotzdem. Und weil Johanna sich wegdrehte, redeten sie auf mich ein, während sie aus den Augenwinkeln immer auf Johanna schielten und das Gespräch sofort abbrachen und sich auf sie stürzten, sobald sie ihren Kopf in meine Richtung drehte. Sie redeten sich um Kopf und Kragen, machten Witze und Andeutungen, die Johanna zwar verstand, über die sie aber nicht lachte. Das forderte sie heraus. Eine Zeitlang wuchsen sie über sich hinaus, schlugen Pfauenräderund bestaunten die Eloquenz, mit der sie gegen die Musik anschrien. Doch irgendwann ermüdeten sie, dann schlug alles um, man konnte es in ihren Gesichtern sehen. Sie bemerkten dann, dass Johanna ihnen gar nicht mehr zuhörte, sondern über ihre Schulter hinweg auf die Tanzfläche schaute. Anfangs hatten sie mir noch leidgetan. Ich war extra freundlich zu ihnen gewesen, um Johannas Abfuhr wiedergutzumachen. Zu allem, was sie sagten, machte ich ein Gesicht, als sei es eine Offenbarung. Dabei gaben sie sich längst keine Mühe mehr, wurden einsilbig, bliesen mir Rauch ins Gesicht oder rülpsten. Sie wollten nicht wissen, dass die Seidenstraße aus unzähligen Straßen besteht, sie horchten auch nicht auf, als ich ihnen Mansons Interpretation von Helter Skelter und Blackbird darlegte, und dass Marilyn Monroe während der Dreharbeiten zu Manche mögen’s heiß schwanger war und dann auch das Kind verlor, interessierte sie auch nicht. Irgendwann verstand ich dann, dass sie tatsächlich nichts anderes wollten, als von
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