Eines Abends in Paris
nichts weiter. Vergessen Sie es einfach, ja? Und was den heutigen Tag betrifft, bin ich jedenfalls sehr froh, dass Sie den Parisien nicht lesen, denn da steht manchmal wirklich der größte Unfug drin.«
Madame Clément nickte besänftigt.
»Also, was möchte dieser Monsieur Patisse denn nun?«
»Oh, das war ein sehr seriöser Herr.« Über Madame Cléments Gesicht zog sich ein Ausdruck höchster Zufriedenheit. »Und sehr freundlich und aufmerksam. Er hat sich schon ein paar Notizen gemacht über alles, was ich ihm erzählen konnte – dass das Kino früher ihrem Onkel gehörte und dass Sie es dann übernommen haben, obwohl Sie eigentlich einen ganz anderen Beruf erlernt haben.« Sie sah mich an wie eine stolze Mutter, und ich musste daran denken, dass meine eigene Mutter die Entscheidung, den lukrativen Vertrieb von Luxusbadewannen in die Vereinigten Emirate einzustellen und zum Kino zurückzukehren, als höchsten Grad von »Traumtänzerei« empfand.
»Junge, hast du dir das auch gut überlegt? So einen tollen Posten aufzugeben für ein altes Plüschkino, also, ich weiß nicht«, hatte sie zweifelnd gesagt, und mein Vater hatte ihr mit gewichtiger Miene beigepflichtet. »Die guten Jobs bekommt man heutzutage nicht hinterhergeworfen, Alain. Irgendwann muss jeder mal erwachsen werden.« Das waren seine Worte und ich hatte mich damals zum ersten Mal gefragt, ob Erwachsenwerden zwangsläufig bedeutete, seine Träume zu verraten und möglichst viel Geld zu verdienen. Offenbar ja.
Ich seufzte unwillkürlich.
»Das war doch in Ordnung, dass ich dem Herrn von Le Monde das erzählt habe, oder, Monsieur Bonnard?« Madame Clément sah mich fragend an, und ich nickte.
»Ja, ja, natürlich, das ist ja kein Geheimnis.«
»Er war übrigens ganz begeistert von unserer Reihe Les Amours au Paradis. ›Meine Güte – Jules und Jim‹, hat er gesagt, als er die Programmvorschau durchblätterte, ›das habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, das komme ich mir anschauen.‹«
Madame Clément wies auf das alte Schwarz-Weiß-Plakat im Foyer, das Jeanne Moreau zeigte, wie sie mit Ballonmütze und angemaltem Schnurrbart mit ihren beiden Freunden lachend über eine Brücke lief. »Er hat ganz lange davor gestanden und den Kopf geschüttelt und – na ja, jedenfalls will er einen Artikel schreiben über das Cinéma Paradis und über Sie, Monsieur Bonnard. Darüber, wie es ist, heutzutage ein Programmkino zu betreiben. Das ist ja nicht immer einfach, nicht wahr, das wissen wir doch alle!«
Sie blickte zu François hinüber, der irgendetwas Zustimmendes brummte, und dann sahen sie mich an, als wäre ich d’Artagnan. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte gerufen: »Einer für alle! Alle für einen!«
Madame Clément und Francois waren von der ersten Stunde an dabei gewesen, aber die Art und Weise, wie sie sich jetzt hinter mich und das kleine Lichtspieltheater stellten, rührte mich doch.
»Bon. Ich rufe den Herrn von der Presse später an.« Ich nickte den beiden zu und lächelte. Es war in der Tat nicht immer einfach, der Betreiber eines kleinen Kinos zu sein, dennoch hatte es seinen ganz eigenen Charme und konnte, wie sich in den letzten Tagen herausgestellt hatte, bisweilen recht aufregend sein.
Doch war ich nicht so naiv zu glauben, dass das plötzliche Auftauchen eines Journalisten etwas mit meiner Person zu tun hatte oder mit der Wiederentdeckung des Cinéma Paradis. Eine Geschichte über ein Kino wie das Paradis war für eine Zeitung wie Le Monde nur von sehr begrenztem Interesse. Es sei denn, es war August und man suchte händeringend nach Themen, die das Sommerloch füllten, bevor die Rentrée die Menschen wieder in die Stadt zurückkehren ließ. Oder es war April und eine Schauspielerin namens Solène Avril hatte aus sentimentalen Gründen ein gewisses Cinéma zu ihrem Lieblingskino erklärt.
Bevor ich in mein Büro verschwand, das neben dem Kassenhäuschen lag, drehte ich mich noch einmal um.
»Ach ja, und was diese Dreharbeiten angeht – wir werden das Kino Anfang Mai für eine Woche schließen, um es den Schauspielern zur Verfügung zu stellen. Da fallen die Vorstellungen dann aus. Ansonsten wird sich nichts ändern.«
In diesem Moment glaubte ich wohl selbst, was ich sagte. Doch es änderte sich viel. Um nicht zu sagen alles.
14
Ein strahlend blauer Himmel zog sich über Paris, als ich am nächsten Morgen das Fenster öffnete. Ich sah eine kleine weiße Wolke, die direkt über mir zu schweben schien,
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