Eines Abends in Paris
Dennoch hatte ich ein ungutes Gefühl und beschloss, zu dem Haus zu gehen, in dem Mélanie wohnte. Wie vor einer Woche überquerte ich den Boulevard Saint-Germain, kam an der Brasserie Lipp mit ihren orange-weiß-gestreiften Markisen vorbei und lief dann ungeduldig die Rue de Grenelle entlang, die sich eine Weile hinzog, bis ich schließlich an der Drogerie an der Ecke Rue de Bourgogne ankam und nach links abbog. Dann stand ich vor dem großen grünen Eingangstor, das selbstverständlich verschlossen war. Unschlüssig blickte ich auf die vielen Klingelschilder. Es war unmöglich, um diese Uhrzeit jemanden aus dem Bett zu klingeln, und ich wusste ja nicht einmal, wo ich hätte läuten sollen.
Ich drückte mich eine Weile am Hauseingang herum und ging dann zu dem kleinen Schreibwarenladen hinüber, an dem vor einer Woche der verrückte alte Mann in seinen Pantoffeln vorbeigeschlurft war und uns »Liebespaar« hinterhergerufen hatte. Fast bedauerte ich es, den Alten nicht zu sehen. Ich zündete mir eine Zigarette an. Ich wartete, ich wusste gar nicht so recht, worauf, aber ich mochte mich nicht von dem Haus wegbewegen, hinter dessen Mauern ein Innenhof mit einem Kastanienbaum war und vielleicht auch ein Mädchen namens Mélanie.
Und dann hatte ich Glück.
Das Tor in dem alten hohen Gebäude schob sich mit einem leisen Surren zur Seite. Ein Taxi fuhr langsam suchend vor und verdeckte für einen Augenblick den Mann in dem langen dunklen Wollmantel, der jetzt aus dem Eingang trat und rasch in den Wagen stieg.
Noch bevor das Taxi anfuhr, hatte ich die Straßenseite gewechselt und war durch das Tor geschlüpft, das sich hinter mir wieder schloss.
Das Mondlicht fiel sanft in den Hof, und in den Ästen der alten Kastanie hörte ich ein Rascheln und blickte unwillkürlich hoch, konnte aber nichts erkennen. Nur drei Fenster in den oberen Etagen des Rückgebäudes waren noch erleuchtet, und in einem meinte ich dasjenige wiederzuerkennen, hinter dem Mélanie beim letzten Mal verschwunden war. Aber ich war mir nicht sicher.
Ratlos starrte ich auf das hohe Fenster, dessen Flügel weit offen standen und aus dem das Licht warm und golden schimmerte. Ich überlegte, ob ich Mélanies Namen rufen sollte. Oder ob das albern oder unpassend war. Und dann erschien eine weiße Frauenhand im Rahmen und zog das Fenster mit einem entschlossenen Ruck zu. Das Licht ging aus, und ich blieb einigermaßen verstört zurück.
War es Mélanie gewesen, deren Hand ich für eine Sekunde am Fenstergriff gesehen hatte? War sie also in Paris und doch nicht zu unserer Verabredung gekommen? Oder war es die Hand einer anderen Frau und ich hatte mich überhaupt in der Wohnung geirrt? Und wer war der Mann im dunklen Mantel, der wenige Minuten zuvor in einem Taxi davongefahren war?
Wieder raschelte es in den Ästen über mir und ich schrak auf. Da machte es einen Satz, und vor mir stand plötzlich ein großer schwarzer Kater und starrte mich aus grünen Augen unverwandt an.
Damals begriff ich natürlich nicht, wie alles zusammenhing, und ich ahnte auch nicht, dass das schwarze Tier mit den irisierenden Augen mir zumindest auf eine meiner Fragen hätte Antwort geben können.
In diesem Augenblick fiel mir absurderweise nur eine Szene aus einem alten Preston-Sturgis-Film ein, in der eine schwarze Katze durchs Bild läuft und die Frau den Mann fragt, was das bedeute, und er ihr antwortet: »Das hängt ganz davon ab, was einem danach zustößt.«
Die Rue de Bourgogne lag ausgestorben da und auch in der Rue de Varenne sah ich keine Menschenseele, als ich mich nachdenklich und einigermaßen verwirrt auf den Heimweg machte. Nicht einmal einer jener unvermeidlichen Wachleute, die üblicherweise vor den Regierungsgebäuden mit den alten sandsteinfarbenen Fassaden standen, war da. Die Zeitschriften- und Antiquitätengeschäfte, die kleinen Gemüseläden, die Boulangerien, aus denen morgens der verlockende Geruch nach frischem Baguette drang, die Patisserien mit ihren kunstvollen tartes und Küchlein und den pastellfarbenen meringues, die an Wolkengebilde denken ließen und beim ersten Bissen in süße Partikel zerstoben, die Restaurants und Cafés, die Traiteure, bei denen man tagsüber für kleines Geld coq au vin mit Chicorée und dazu ein Glas Rotwein bekam – sie alle hatten ihre Rollladen heruntergezogen.
Um diese Uhrzeit war Paris ein verlassener Stern. Und ich war sein einsamster Bewohner.
15
»Tja«, sagte Robert und bestrich unbeeindruckt sein
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