Eines Abends in Paris
Auslage des Ladurée stehen und warf einen gleichmütigen Blick auf die hübschen Kartons in Altrosa und Lindgrün, die mit Macarons und anderen Köstlichkeiten gefüllt waren. Wenn ich mit Mélanie zusammen gewesen wäre, hätte ich ihr eines Abends, einfach so, eine Schachtel Himbeermacarons mitgebracht, weil mich das zarte Rot an die Farbe ihres Mundes erinnerte. Ich hätte sie mit Aufmerksamkeiten überschüttet, nur um sie lächeln zu sehen. Gestern Abend hatte ihr Lächeln etwas Herzzerreißendes gehabt. Fast so, als ob sie mich ziehen lassen müsste und nicht ich sie. Was für ein Geheimnis trennte uns und verhinderte unser Glück? Hatte es mit der Vergangenheit zu tun? Hatte es etwas mit dem Cinéma Paradis zu tun? Wieder sah ich die beiden Initialen vor mir. Was war passiert mit M. und V.? Was war aus ihrer Liebe geworden?
Wenn ich daran dachte, wie Mélanie an unserem ersten und einzigen Abend von den Männern in ihrem Leben gesprochen hatte, konnte es nichts Gutes gewesen sein. Ich habe ein Talent dafür, mich in die falschen Männer zu verlieben, hatte sie gesagt. Am Ende gibt es immer eine andere Frau.
War der mysteriöse V-Punkt ein verheirateter Mann gewesen, der ihr etwas vormachte? War eine andere Frau in die Beziehung eingedrungen? Oder hatte es gar einen tragischen Todesfall gegeben, der die liebende M. allein zurückließ? Konnte es möglicherweise sein, dass es zwischen mir und V-Punkt eine Ähnlichkeit, eine Verbindung gab? War sie deshalb bereit gewesen, sich mit mir einzulassen? War sie überhaupt dazu bereit gewesen?
Ich wusste es nicht. Ich wusste so vieles nicht. Und doch fühlte ich mich Mélanie in diesem Moment ganz nah. Ich sah in die Fensterscheibe, die mein Gesicht widerspiegelte, und erwartete fast, Mélanies Gesicht hinter dem meinen auftauchen zu sehen.
Merkwürdigerweise hatte ich das gleiche Gefühl wie am Abend zuvor, als ich auf der Dachterrasse des Georges stand und über Paris geschaut hatte wie über einen Ozean. Eine Frau war leise hinter mich getreten und doch hatte ich die leichte, unmerkliche Bewegung wahrgenommen. Es war Solène, und ich hatte es sofort gespürt. Doch diesmal gab es keine Frau, die sich leise hinter mich stellte, die Fensterscheibe blieb leer.
Ich wollte schon weitergehen, da hörte ich Schritte, die sich eilig näherten. Eine Frau mit Hut kam mit einer schweren Umhängetasche die Straße hochgelaufen und winkte ein Taxi heran, das gerade die Rue Bonaparte in Richtung Boulevard Saint-Germain hochrollte. Es kam auf der Höhe des Ladurée zum Stehen. Die Frau öffnete die hintere Wagentür und warf dankbar ihren Beutel auf den Rücksitz. Dann hörte ich sie noch vor dem Einsteigen atemlos sagen: »Avenue Victor Hugo, vite !«
Der Wagen fuhr an, und ich setzte meinen Weg fort und sinnierte noch ein wenig darüber, dass auch der Dichter Victor Hugo einen Vornamen trug, der mit einem »V« begann. Mag sein, dass ich bereits eine selektive Wahrnehmung hatte, was Männernamen mit »V« anging, mag sein, dass mir der Name Victor aus irgendeinem Grund besonders gefiel – jedenfalls tauchte mit einem Mal aus den Tiefen meines Unterbewusstseins eine verschwommene Erinnerung auf. Sollte mir der Name Victor etwas sagen? Er sagte mir nichts.
Und doch …
Kopfschüttelnd ging ich ein paar Schritte weiter. Und dann blieb ich unvermittelt stehen und schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. Eine blitzartige Vision gab mir den Blick frei auf einen stillen Platz, das Anzünden einer Zigarette, nächtliche Bekenntnisse vor der Auslage eines Juweliers.
Es gab in der Tat jemanden, der den Namen Victor erst vor wenigen Wochen erwähnt hatte. Jemand, der – seltsam genug – das Cinéma Paradis noch von früher kannte und nach vielen Jahren zurückgekehrt war, auf der Suche nach dem, was er einmal war. Ich sah eine wunderschöne Frau mit blondem Haar vor mir.
Doch es war nicht Mélanie.
26
Der Teppichboden dämpfte jedes Geräusch. Einem Impuls folgend hatte ich mitten auf der Straße kehrt gemacht, war zum Taxistand vor der Brasserie Lipp zurückgelaufen und hierhergefahren. Meine Gedanken wirbelten durcheinander wie bunte Herbstblätter, doch jetzt, da ich vor der Tür ihrer Suite stand, herrschte atemlose Stille in meinem Kopf. Es war kurz vor Mitternacht und ich hoffte nur eines: dass sie da war.
Ich klopfte an die Tür, erst leise, dann heftiger. Erst dann bemerkte ich den kleinen Klingelknopf. Noch bevor ich ihn drücken konnte, öffnete sich langsam die
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