Eines Abends in Paris
und geschmeichelt lachte. Ich fuhr meine Reihen in gleichmäßigen Bewegungen ab, hielt nach Taschentüchern oder Geldstücken Ausschau und war eingehüllt in das monotone Brausen des Geräts.
Ich dachte daran, wie ich vor vielen Jahren mit dem Mädchen mit den Zöpfen in der ersten Reihe gesessen hatte und wir uns an den Händen hielten. In der fünften Reihe dachte ich daran, wie ich unter den wachsamen Blicken meines Onkels zum ersten Mal eine Filmrolle einlegen durfte und wie ich vergessen hatte, diese beim Herausnehmen fest zwischen beiden Händen zusammenzudrücken, und der halbe Film sich in Sekunden luftschlangengleich abwickelte. In Reihe zwölf dachte ich daran, wie ich dem toten Onkel Bernard gestern Nacht in meinem merkwürdigen Weltraumtraum zum ersten Mal wieder begegnet war. Ich sah sein gütiges Lächeln vor mir und seine letzten Worte schienen sich in das Getöse des Staubsaugers zu mischen.
Du musst ins Cinéma Paradis, mein Junge … geh ins Kino, dort wirst du alles finden … im Cinéma Paradis …
Es mag seltsam klingen und ich bin eigentlich auch nicht der spirituelle Typ, aber in der Einsamkeit des Kinos und meines Herzens fragte ich mich plötzlich, ob es doch so etwas geben könnte wie Botschaften aus dem Jenseits. Hatte mein toter Onkel mir eine Botschaft zukommen lassen, oder war es mein eigenes Unterbewusstsein, das mich auf etwas aufmerksam machen wollte?
Ich war im Cinéma Paradis, aber bis auf einen Schal in Reihe drei und einen Lippenstift in Reihe fünfzehn hatte ich nichts Nennenwertes gefunden.
Als ich in der siebzehnten Reihe angekommen war, stellte ich den Staubsauger aus. Einen Versuch war es wert.
Mélanie hatte immer in Reihe siebzehn gesessen. Das hatte mich schon damals neugierig gemacht, als ich noch überlegte, welche Geschichte wohl zu dem Mädchen im roten Mantel passte.
Ich ging in mein Büro zurück und suchte nach einer Taschenlampe.
»Bist du fertig?« Robert, der immer noch telefonierte, sah auf, als ich mit entschlossener Miene hereinkam.
»Gleich«, sagte ich und ging mit klopfendem Herzen wieder in den Kinosaal zurück. Langsam schritt ich die Reihe siebzehn ab.
Ich bückte mich, ich fuhr mit der Hand in alle Ritzen, ich leuchtete in alle Zwischenräume, ich fand zwei Kaugummis, die unter die Sitze geklebt worden waren, und einen Kugelschreiber, der zwischen zwei Sesseln steckte, ich besah mir die Kratzer und Kerben auf der hölzernen Rückseite der Vorreihe, ich steckte den Kopf unter jeden Sessel. Ich weiß nicht genau, wonach ich eigentlich suchte, aber so gründlich hatte noch keiner die weinrote Bestuhlung der Reihe siebzehn untersucht. Ich war mir plötzlich absolut sicher, dass ich etwas finden würde.
Und ich fand auch etwas.
Als Robert eine Viertelstunde später den Kinosaal betrat, saß ich noch immer ganz versunken und mit klopfendem Herzen vor dem vorletzten Stuhl der Reihe siebzehn und fuhr mit dem Finger staunend über zwei Initiale, die man auf den ersten Blick nicht sah, weil sie nachgedunkelt und wohl schon vor langer Zeit in das Holz geritzt worden waren.
Offenbar hatten sich hier zwei Liebende verewigen wollen. Das Herz, das die beiden Buchstaben mit dem Und-Zeichen in der Mitte umschlang, war fast nicht mehr zu erkennen, die Buchstaben hingegen schon: M. + V.
Plötzlich fiel mir wieder jener rätselhafte Satz ein, den Mélanie bei unserer ersten Verabredung im La Palette zu mir gesagt hatte. Ich weiß noch, wie sehr mich dieser Satz berührte und dass ich ihn wie selbstverständlich auf mein Kino, meine wunderbare Filmauswahl oder einer verwegenen Eingebung folgend sogar auf mich selbst bezog.
Immer wenn ich die Liebe suche, gehe ich ins Cinéma Paradis , hatte Mélanie gesagt. Und jetzt verstand ich auch, warum.
25
»Okay«, sagte Robert und seine blauen Augen funkelten. »Die Sache ist sonnenklar. ›M‹ steht für Mélanie. Du hast vollkommen Recht, das kann kein Zufall sein.«
Ich nickte aufgeregt. Endlich waren Robert und ich wieder einer Meinung. Wir waren ins Chez Papa gegangen, einen gemütlichen Jazzclub, der etwas versteckt hinter dem Deux Magots in der Rue Saint-Benoît lag. Nach der Entdeckung, die ich in Reihe siebzehn gemacht hatte, konnte ich gut ein Glas Rotwein vertragen. Oder auch zwei. Der Pianist klimperte leise im Hintergrund, begleitet von einem Cellospieler, der lässig an seinen Saiten herumzupfte.
»Aber wer ist V-Punkt?«, sagte ich.
»Nun, wenn wir mal davon ausgehen, dass M-Punkt keine Lesbe
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