Eines Abends in Paris
Zufall, Solène. Und nun möchte ich eines von dir wissen: Wer ist Victor? Was ist damals passiert? Was war mit Mélanie und Victor, der dein Freund gewesen ist? Was für eine Verbindung besteht zwischen Mélanie und dir?«
Solène war blass geworden. Ihre Augen flackerten unruhig. Dann stand sie auf und ging ohne ein Wort zu ihrem Schminktischchen hinüber. Sie nahm etwas in die Hand. Es war ein Bild in einem schmalen Silberrahmen. Sie hielt es mir hin und ich griff danach.
Das Bild, eine alte Schwarz-Weiß-Photographie, zeigte zwei kleine Mädchen in dicken Wintermänteln, die vor irgendeinem Brückengeländer in Paris standen und sich lachend an den Händen hielten. Die Größere trug ihre hellen blonden Haare aufgesteckt, mit einer riesigen weißen Schleife, und hatte eines ihrer Stiefelchen kokett nach vorn gesetzt. Die Kleinere hatte dunkelblonde Zöpfe und in ihren großen brauen Augen lag eine reizende Schüchternheit.
Ich blickte ungläubig auf die vergnügten Kindergesichter, in denen sich bereits alles zeigte, was die Frauen künftiger Tage einmal ausmachen würde. In irgendeinem sensitiven Winkel meines Gedächtnisses hatte sich ein Lachen verfangen, ein unvermitteltes, herzerfrischendes Hahaha, das ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, in einer anderen Frau wiedererkannte. In der Frau, die jetzt so verstört und mit schuldbewusster Miene vor mir stand.
»Aber …«, sagte ich leise. »Das ist doch nicht möglich.«
Solène nickte kaum merklich. »Doch«, sagte sie. »Mélanie ist meine Schwester.«
27
Es gibt Sätze im Leben, die vergisst man nie, hatte Solène gesagt, und ich sah, wie ein tief empfundener Kummer das Blau ihrer Augen verschattete. Der Satz, den sie niemals vergessen sollte, war aus dem Mund ihrer Schwester gekommen.
»Hauptsache, du bekommst, was du willst, alles andere interessiert dich nicht«, hatte Mélanie hasserfüllt gesagt. »Ich will dich nie mehr sehen, hörst du? Geh mir aus den Augen!«
In dieser Nacht in einer Luxussuite im Ritz machte ich eine Zeitreise, die direkt in die verwundeten Herzen zweier Schwestern führte, die als Kinder unzertrennlich gewesen waren.
Bevor Solène anfing, ihre Geschichte zu erzählen, die bis in die frühen Morgenstunden reichen sollte, bat sie mich um eine genaue Beschreibung. »Ich will ganz sicher sein«, sagte sie, und ich tat ihr den Gefallen, obwohl es für mich keinen Zweifel gab, dass das jüngere der beiden Mädchen auf der Photographie Mélanie war.
Als ich den goldenen Ring mit den Rosen erwähnte, nickte Solène bestürzt. »Oh, mein Gott«, murmelte sie. »Ja, das ist der Ring von Maman. « Sie sah mich mit schmerzlicher Miene an, und ich nickte.
»Mélanie sagte damals, ihre Mutter sei gestorben – und dass der Ring ihre einzige Erinnerung an sie sei«, setzte ich hinzu. »Von ihrem Vater hat sie nichts erzählt.«
»Mélanie liebte Maman über alles. Mit Papa konnte sie nie so recht etwas anfangen. In unserer Familie war ich Papas Liebling. Ich war der Wildfang, die Abenteuerlustige, das Mädchen, das alle zum Lachen brachte und mit den Jungs aus der Nachbarschaft herumzog. Mélanie war die Stillere von uns beiden. Sie lebte in ihrer eigenen Welt. War versponnen und hochsensibel. Als Maman einmal eine Stunde später als erwartet nach Hause kam, fand sie Mélanie völlig aufgelöst im Kleiderschrank. Sie hatte sich dort versteckt und war überzeugt davon, Maman wäre etwas zugestoßen. Sie hatte viel Phantasie, dachte sich Geschichten aus, die sie in ein Schulheft schrieb, das sie eifersüchtig unter ihrer Matratze versteckte und in das nie jemand hineinschauen durfte.«
Solène lächelte. »Obwohl wir so unterschiedlich waren, liebten wir uns innig. Manchmal schlüpfte Mélanie abends zu mir ins Bett, und dann strich ich ihr über den Rücken, bis sie eingeschlafen war. Ich machte meine ersten Erfahrungen mit den Jungs aus dem benachbarten Lycée und meine kleine Schwester stand hinter der Tür und beobachtete uns heimlich, wenn wir uns küssten. Manchmal, nicht oft, gingen wir ins Cinéma Paradis. Papa arbeitete bei der Postbehörde, aber er ist nie besonders weit gekommen, und wir hatten wenig Geld für Vergnügungen dieser Art. Wir liebten beide Filme – Mélanie noch mehr als ich. Ich betrachtete das Kino eher als eine Möglichkeit, mich heimlich mit einem Jungen zu treffen, aber für meine Schwester waren die Sonntagnachmittage im Kino etwas unendlich Kostbares. Sie tauchte völlig ein in diese Filme, träumte
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