Einfach Freunde
maximal zwei, drei Tage bleiben. Vielleicht brauche ich doch etwas länger, um hinter dieses Geheimnis zu kommen.
22
Ich sagte, dass Fleury-Mérogis mir vorkam wie ein Ferienlager. Das ist ein kleines bisschen übertrieben. Es stimmt, dass sich die Aufseher um die Häftlinge kümmerten, als wären sie ihre Mamas, dass es keinen sexuellen Missbrauch gab, dass der Warenverkehr sich in Form von Tauschhandel und nicht Erpressung abspielte. Ich habe die schlechten Seiten des Gefängnisses ein bisschen verharmlost. Die ersten Tage hat man mich zu zwei anderen Typen in die Zelle gesteckt. Das Aufeinandergepferchtsein war das Einzige, was ich nicht aushalten konnte. Ich kam damit klar, die Freiheit verloren zu haben, wie ein Hund aus einem Blechnapf zu essen, die Toilette in der Zelle zu haben und die entsprechenden Gerüche dazu. Vorausgesetzt, es waren meine Gerüche.
Meine Mitbewohner kamen rasch überein, dem Jungchen da zu zeigen, wie der Hase läuft ⦠Ich hab sofort die Verwaltung auf den Plan gerufen. Entweder ich werde von ihnen getrennt, oder es gehen ein paar Knochen in die Brüche. Sie haben nicht auf mich gehört; einer der Kerle hat einen Ausflug in die Notaufnahme von Ivry gemacht. Und da ich mich schlieÃlich bloà gegen ein Paar übelgesinnte Muskelpakete gewehrt hatte, teilte mir die Gefängnisleitung eine Einzelzelle zu, man war schlieÃlich darÂauf bedacht, den Zwischenfall schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen. Von da an behandelten mich die Aufseher wie Mütter, und ich war ihr artiges Mustersöhnchen. Beim Hofgang hielt ich mich schön in der Mitte, in einiger Entfernung von den Mauern, wo die Junkies auf Entzug und die Depressiven um ihre Medikamente feilschten. Das Yo-Yo-System über die Fenster eignete sich nicht gut für die Gelatinekapseln, die sind zu leicht. Also nahmen die Kerle das Risiko auf sich, ihren Handel im Hof abzuÂwickeln, sie hatten keine andere Wahl. RegelmäÃig erschallte eine Stimme aus dem Lautsprecher.
»Der gelbe und der blaue Kittel neben dem Pfosten, sofort auseinander!«
Im Gefängnis schallten überall Stimmen, die ganze Zeit. Dabei waren die Zellen schalldicht isoliert: Der Nachbar musste den Ton des Fernsehers schon voll aufdrehen, um die anderen zu nerven. Komischerweise drangen die Schreie der Männer durch alles hindurch. Ich sagte, dass die Aufseher wie Mamas waren und die Typen einander respektierten, weil ich nichts anderes gesehen habe. Aber gehört habe ich.
Ich mag die Geräusche von Beaugrenelle, die Kids, die ihre Sohlen über den Asphalt schleifen, und die ConÂÂcierge, die die Kippen wegfegt. Frrrt, frrrt ⦠Ich mag die Geräusche von Paris, die knatternden Motorroller, die Metro, die an der Bastille aus dem Untergrund schieÃt, die Warnpfiffe der Schwarzhändler und sogar die heulenden Sirenen der Polizeiautos. Bei Philippe Pozzo di Borgo mag ich die Stille. Das Apartment geht auf einen Garten hinaus, der von der StraÃe nicht zu erahnen ist. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es so was gibt, einfach so, mitten in Paris. Nach seinem Kaffee betätigt er mit dem Kinn den Mechanismus und fährt sein elektrisches Wägelchen ans Glasfenster, wo er sich eine Stunde nicht mehr vom Fleck rührt. Er liest. Und ich entdecke das für einen gebildeten Tetraplegiker unentbehrliche Zubehör: den Leseständer. Man klemmt das Buch fest â ein Ziegelstein von tausend Seiten, ganz ohne Fotos, in winzigen Buchstaben gedruckt, eine wahre Selbstverteidigungswaffe â, ein Stab aus Plexiglas blättert um, wenn Monsieur Pozzo es mit einer Kinnbewegung befiehlt. Da zu sein ist Teil meines Jobs. Kein Laut ist zu hören, ich drück mich in die Couch, schlafe.
»Abdel? Hallo, Abdel!«
Ich schlage ein Auge auf, strecke mich.
»Ist das Bett oben nicht bequem?«
»Doch, doch, aber ich hab gestern meine Kumpels getroffen, also ruh ich mich ein bisschen aus â¦Â«
»Tut mir leid, Sie zu stören, aber das Gerät hat zwei Seiten auf einmal umgeschlagen.«
»Aber das ist doch nicht schlimm. Fehlt Ihnen ein Stück von der Geschichte? Soll ich es Ihnen erzählen? So sparen Sie Zeit!«
Ich würde alles tun, um meinen Spaà zu haben. Ich hab nichts dagegen, bezahlt zu werden, um zu schlafen, aber wenn ich die Wahl habe, möchte ich doch lieber bezahlt werden, um zu leben.
»Warum nicht? Abdel, haben Sie
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