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Einfach losfahren

Einfach losfahren

Titel: Einfach losfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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Unfallort, warum, weiß ich nicht. Auf dem Boden lagen die roten Splitter einer Rückleuchte. Ich hob einen auf. Er liegt noch immer bei mir zu Hause.
    Die Unfallstelle lag genau zwischen seinem Zuhause und meinem. Wer hätte gedacht, dass diese Straße von einem Moment auf den anderen eine andere werden würde. Dass sie von nun an Sinnbild eines entsetzlichen Schmerzes werden würde: die Straße, die unser beider Zuhause voneinander trennte, die wir Tausende Male entlanggefahren waren, um uns zu sehen, um alles Mögliche zu bereden und zu unternehmen.
    Die Autos schossen wie immer dahin, die Fahrer wussten nicht, was an diesem Tag hier an dieser Stelle geschehen war. Ich setzte mich auf den Bordstein. Ich nahm mir die Zeit, über mich nachzudenken, mich an die Zeit zu erinnern, als meine Mutter gestorben war. Ich dachte an den Tod, der mich wieder gestreift hatte, der in mein Leben getreten war und mir einen neuen Schmerz zugefügt hatte, mit dem ich umgehen musste. Ich hatte noch nie das Unwiderrufliche akzeptieren, mit ihm umgehen können.
    Warum nur? Warum? Federicos Tod war anders als all die anderen Verluste in meinem Leben, die mir nahegegangen waren. Anders als der Tod meiner Mutter, anders als der meiner Oma.
    Bei Federico handelte es sich nicht um einen Tod, sondern um die Unterbrechung des Lebens. Der Verlust meiner Mutter war ein Schock gewesen, aber damals war ich acht Jahre alt, und in diesem Alter geht man anders damit um. Erst mit zwölf, dreizehn habe ich begriffen, dass nicht etwa sie beschlossen hatte zu gehen, sondern dass der Tod sie mit sich genommen hatte. Und dieses Bewusstsein hat mir geholfen, auf andere Art mit dem Schmerz umzugehen.
    Und meine Oma war mit achtundachtzig gestorben, als ich vierundzwanzig war. Sie hatte ein Jahr lang starke Schmerzen gehabt, und als sie starb, dachten wir alle, letztlich sei es besser so. Da auch sie nun mal nicht unsterblich war, und in Anbetracht ihres Alters schien uns dieses Ende fast gnädig. Wie schmerzlich er auch ist, aber in solchen Fällen ist der Tod geradezu ein Freund.
    »Besser so, dann muss sie wenigstens nicht mehr leiden«, sagten die Verwandten bei der Beerdigung.
    Mit Federico traf es zum ersten Mal einen Freund in meinem Alter. Meine Mutter war jung gestorben, mit vierzig, obwohl für ein Kind wie mich Vierzigjährige natürlich alte Leute waren. Dreißigjährige übrigens auch. Sie waren die Erwachsenen: eine andere Welt.
    So nahe wie jetzt war mir der Tod noch nie gekommen. Ich wusste natürlich, dass man in jedem Alter sterben kann, aber bis zu diesem Tag war es mir nicht so klar gewesen. Als könnte er nur andere treffen, die fern von mir waren, fern von uns. An den Tod dachte ich wie ein Raucher, der weiß, dass Zigaretten schädlich sind. Die Schädlichkeit ist ein Thema, mit dem man sich irgendwann mal beschäftigen wird, in einem anderen Lebensabschnitt. Aber jetzt war er ganz nah, hatte sich in meiner unmittelbaren Umgebung gezeigt. Was Federico widerfahren war, war ein gewaltiger Schock, und nicht nur wegen des Verlusts. Und doch spürte ich all diesen Schmerz nicht. Ich sah ihn, nahm ihn wahr, doch es war, als könnte ich mir seiner nicht vollständig bewusst werden.
    Die Boxen meiner Anlage haben eine Sicherheitsvorrichtung: Ab einer gewissen Lautstärke schalten sie sich ab, damit sie nicht explodieren, es kommt kein Ton mehr heraus. Mit mir musste dasselbe passiert sein. Eine Box im Hirn und eine im Herzen. Irgendwann hatten sie sich abgeschaltet, und ich konnte nicht richtig begreifen, was passiert war.
    Drei Tage in der Leichenhalle, danach die Beerdigung. Es heißt, an Weihnachten geben sich alle Mühe, nett zu sein. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber auf Beerdigungen ist es mit Sicherheit so. Auf Beerdigungen sind wir alle netter. Die Leute lächeln einander freundlich zu, zeigen ihre Anteilnahme und sprechen wenig, und wenn, dann mit leiser Stimme.
    Es war ein wunderschöner Sonnentag, wie im Sommer. Das Wetter stand in krassem Widerspruch zu dem Schmerz, den wir empfanden. Eigentlich hätten wir zusammen mit Federico ein Eis essen oder zum Mittagessen ans Meer fahren, Fisch essen und eisgekühlten Weißwein trinken sollen, statt an seiner Beerdigung teilzunehmen.
    Federico war eingeäschert worden. Mein bester Freund befand sich plötzlich in einer Urne, die so groß war wie die Lacktöpfe, die wir gemeinsam für die Tür- und Fensterrahmen der Posada gekauft hatten. Alles war so surreal, dass ich hätte loslachen

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