Einfach losfahren
fortgeschoben. Francesca erzählte mir, dass sie ihn kurz vor dem Unfall noch gesehen hatte. Zwischen Francesca und mir war es zwar aus, aber Federico hatte trotzdem jeden Tag in der Bar vorbeigeschaut und hallo gesagt. Ein Schwätzchen gehalten. Ich mochte die Vorstellung, dass ihre Freundschaft unabhängig von mir bestand.
Abends ging ich zu Giuseppe und Mariella und blieb eine Weile bei ihnen. In der Wohnung wimmelte es von Verwandten. Am nächsten Morgen forschten wir nach einer Telefonnummer, unter der wir Sophie erreichen konnten. Giuseppe sprach mit ihr. Ich hätte es auch tun können, aber Giuseppe wollte in diesen Tagen alles persönlich machen, er sprühte vor Energie. Mariella hingegen konnte sich kaum bewegen. Seltsam mitzuerleben, wie unterschiedlich die Menschen mit Schmerz umgehen. Der eine muss tausend Dinge erledigen, die andere ist wie gelähmt. Es gab noch einen Grund, weshalb Giuseppe anrief: Er sprach gut Französisch. Während er wählte, fiel mir ein, dass Federico gesagt hatte, es gehe nicht täglich ein Flug nach Italien, und ich überlegte, dass Sophie möglicherweise nicht an der Beerdigung würde teilnehmen können. Und so kam es auch. Sophie fehlte auf Federicos Beerdigung. Ich beneidete sie fast darum, denn sie hatte ihn nach dem Unfall nicht gesehen, sie hatte die Tränen und den Schmerz der Angehörigen nicht mitbekommen. Sie konnte sich einbilden, er wäre einfach nur für eine Weile fortgegangen. Für uns war es ja schon schwierig zu begreifen, was geschehen war – wie schwer mochte es da ihr fallen, zu glauben, dass dieser absurde Unfall sich tatsächlich ereignet hatte. Wie eine zweite Madame Butterfly konnte Sophie sich einreden, er sei fortgegangen und werde eines Tages zurückkehren. Manchmal versuchte ich das auch. Ich redete mir ein, Federico wäre auf die Kapverden zurückgefahren. Ich dachte, er würde dort leben, und Sophie, er würde hier leben. Jeder hat seinen kleinen Notausgang.
In den zwei Tagen vor der Beerdigung besuchte ich Federico sooft wie möglich. Ich wollte ihn sehen, solange es noch ging. Stundenlang saß ich neben ihm. Manchmal schien es fast, als atmete er. Jeden Augenblick erwartete ich, dass er wie Julia aus tiefem Schlaf erwachte. Ich hoffte es wirklich. Als Kind hatte ich Geschichten über Leute aufgeschnappt, die just in dem Moment wieder erwachten, als der Sargdeckel über ihnen für immer geschlossen werden sollte. Vielleicht, dachte ich, passiert es ja wirklich.
»Wenn Gott alles kann, warum lässt er es dann nicht geschehen?«, fragte ich mich.
Viele der Leute, die kamen, um von ihm Abschied zu nehmen, kannte ich nicht, hatte ich nie gesehen. Manche wollten wissen, wer schuld war, er oder der Autofahrer. Andere wollten den genauen Unfallhergang und die genaue Todesursache erfahren.
Federico hat einen Motorradunfall gehabt. Dabei ist die Aorta geplatzt. Innerhalb weniger Minuten war er tot.
Doch was spielte das für eine Rolle? Er war nicht mehr, und er würde nie mehr zurückkommen. Nichts würde ihn uns zurückgeben.
Zwei der Besucher fragten die Eltern, ob sie Federico Organe entnehmen dürften. Schließlich ließen sie zu, dass er die Augen spendete. In diesen Tagen, während er unbeweglich dalag, lag ein seliges Lächeln um seinen Mund, und das war schön.
Wenn ich mit ihm allein war, redete ich. Alles Mögliche erzählte ich ihm, auch dass ich die Beatles-Tasse kaputtgemacht hatte. Ja, ich glaubte sogar, er wäre es gewesen.
Am Tag des Unfalls war ich nach dem Besuch im Krankenhaus gegen sieben zurück ins Büro gegangen, denn ich hatte ja alles stehen und liegen lassen. Den Artikel hatte Cristina zu Ende geschrieben, eine Kollegin. Sie ist spitze und hätte etwas Besseres verdient, aber wie es nun mal ist, Frauen müssen im Berufsleben mehr leisten als Männer, um die gleiche Anerkennung zu erfahren. Bei gleicher Leistung gewinnt der Mann. So leid’s mir tut.
Ich erledigte alles, was anstand, und fischte, bevor ich ging, die zerbrochene Tasse aus dem Papierkorb und nahm sie mit nach Hause. Plötzlich hatte alles eine neue Bedeutung bekommen. Wie die Postkarte, die das Thunfischsandwich aus Oregon geschickt hatte. Obwohl Briefmarke und Stempel aus Argentinien stammten. Verrückt, was für einen Wert ein Gegenstand gewinnt, wenn er einem Menschen gehört hat, der gestorben ist: Er wird unbezahlbar.
Es ist mir nicht möglich, alles aufzulisten, was mir in diesen Tagen durch den Kopf ging. Am selben Abend noch fuhr ich an den
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