Einfach neugierig
nicht gemeint«, sagte Karen. »Vielleicht könnte Knecht Ruprecht ... Ann? Ann, was ist mit dir?«
»Ruf Charlie an«, ächzte sie und umklammerte ihren unförmigen Leib. »Zur Hölle mit Charlie«, stöhnte sie auf, als eine neue Wehe sie durchzuckte. »Ruf das Krankenhaus an und sage ihnen, sie sollen die Morphiumspritzen bereithalten. Das tut weh, verdammt noch mal!«
Mit weichen Knien lief Karen zum Telefon.
»Idiotin!« zischte Karen ihrem Spiegelbild zu, als sie sah, daß ihr schon wieder die Tränen kamen. Sie zog ein Papiertuch aus dem Spender, betupfte sich die Augenwinkel und sah, daß ihre Augen rot verschwollen waren. Aber das war kein Wunder, denn seit vierundzwanzig Stunden weinte sie nahezu ununterbrochen.
»Alle weinen bei der Geburt eines Kindes«, murmelte sie vor sich hin. »Bei frohen Ereignissen wie Hochzeiten, Verlobungen und Geburten weinen die Leute nun einmal.«
Sie sah erneut in den Spiegel und wußte, daß sie sich etwas vormachte. Letzte Nacht hatte sie Anns kleine Tochter in den Armen gehalten - so begeistert über das Kind, daß sie mit ihm fast zur Tür hinausgelaufen wäre. Stirnrunzelnd hatte Ann ihrer Schwägerin das Baby wieder abgenommen. »Meins kannst du nicht haben«, sagte sie. »Schaff dir ein eigenes an.«
Und jetzt stand Karen im WC-Vorraum ihres Büros und fühlte sich von ihrer Sehnsucht nach einer Familie und einem Heim fast überwältigt. Zu allem Überfluß fand heute auch noch die betriebliche Weihnachtsfeier statt, und alle anderen waren bester Stimmung. Die am Morgen verteilten großzügigen Gratifikationen von Montgomery-Taggert Enterprises und die Aussicht auf ein reichhaltigen Buffet am Nachmittag sorgten für eine geradezu übermütige Laune in den Büros, die nur ein Gesprächsthema zu kennen schien: McAllister f. Taggerts neueste Entlobung.
Am Morgen, kurz nach der Verteilung der Gratifikationen, kam eine hochgewachsene, gutaussehende Rothaarige mit einem Ringetui in den zitternden Händen ins Büro gestürmt. Das Mädchen am Empfang brauchte weder nach ihrem Namen noch nach ihren Wünschen zu fragen, denn erzürnte Frauen mit Ringetuis in den Händen waren ein üblicher Anblick im Umfeld von McAllister f. Taggert. Nach und nach hatten sich ihr alle Türen geöffnet, bis sie im Allerheiligsten stand: Taggerts Büro.
Eine Viertelstunde später war die Rothaarige wieder herausgekommen, schluchzend, ohne Ringetui, dafür aber mit einer Schatulle, die so aussah, als könnte es durchaus ein Armband enthalten.
,»Wie können sie ihm das nur antun?« hatten sich die Frauen im Büro zugeraunt und die Schuld einzig der Frau zugewiesen. -Er ist doch ein so liebenswürdiger Mann, so charmant und großzügig.«
..Sein Problem ist, daß er sich immer in die falschen Frauen verliebt. Wenn er doch nur eine wirklich gute Frau finden könnte, die ihn für immer liebt«, war die einhellige Ansicht gewesen. »Er braucht einfach eine Frau, die Verständnis für das aufbringt, was er durchmachen mußte.«
Und nach diesem Meinungsaustausch eilte jede Kollegin unter fünfundvierzig in den Waschraum, um ihre Mittagspause darauf zu verwenden, sich so verführerisch wie möglich zu machen.
Nur Karen nicht. Karen blieb an ihrem Schreibtisch und behielt ihre prinzipiell gegensätzliche Meinung über Mr. Taggert und seine Frauen für sich.
Jetzt seufzte Karen tief auf, betupfte sich noch einmal die Augen und verließ den Waschraum. Fast widerwillig ließ sie sich wenig später von vorfreudigen Kolleginnen in den Fahrstuhl ziehen, der zur Weihnachtsfeier in den oberen Etagen hinauffuhr.
Ein ganzes Stockwerk des der Familie Taggert gehörenden Gebäudes war Besprechungen und Sitzungen Vorbehalten. Aber anstatt in unterschiedlich große nüchterne Konferenzräume unterteilt zu sein, war die Etage so gestaltet, als handele es sich um ein verschwenderisch, wenn auch eigentümlich eingerichtetes Haus. Für japanische Kunden stand ein Zimmer mit Tatamimatten, Schoji-Wandschirme und Kunstobjekten aus Jade bereit. Dem Geschmack englischer Klienten entsprach ein von Colefax and Fowler gestalteter Raum mit Clubatmosphäre. Für Kunden mit einem Hang zur Literatur gab es eine Bibliothek mit Tausenden von Bänden in Pecanholzschränken. In einer kleinen Küche sorgte ein Koch für das leibliche Wohl der Kunden, aber es stand auch eine Küche für jene zur Verfü-gung, die sich ihre Mahlzeiten lieber selbst zubereiteten. Und es gab einen großen leeren Raum, der jeweils wechselnden
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