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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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Band
    seinem Schwager Lucian

Die Abwesenheit von Mr. Glass
     
    D ieKonsultationsräume von Dr. Orion Hood, dem hervorragenden Kriminologen und Spezialisten für gewisse moralische Gebresten, zogen sich an der Seeseite von Scarborough hin, hinter einer Reihe sehr großer und heller Terrassentüren, durch die man die Nordsee wie eine endlose Außenmauer aus blaugrünem Marmor sah. An solchen Orten hat die See etwas von der Monotonie eines blaugrünen Tapetensockelstreifens: denn in den Räumen herrschte eine schreckliche Ordentlichkeit, nicht unähnlich der schrecklichen Ordentlichkeit der See. Man darf nun nicht annehmen, daß Dr. Hoods Räume des Luxus oder gar der Poesie entbehrten. Auch diese Dinge waren da, an ihrem Platze; aber man spürte, daß er es niemals gestattete, sie von ihrem Platz zu entfernen. Luxus gab es: Da standen auf einem besonderen Tisch acht oder zehn Kistchen der besten Zigarren; aber sie waren einem Plan gemäß aufgestellt, so, daß sich die stärksten immer der Wand und die leichtesten dem Fenster am nächsten befanden. Jener rechtens Tantalus genannte Ständer mit drei Karaffen Spirituosen in Verriegelung, natürlich die feinsten Marken, stand immer auf dem Tisch des Luxus; doch Phantasiebegabte behaupten, daß der Pegelstand von Whisky, Brandy und Rum sich niemals verändere. Poesie gab es: Die linke Ecke des Raumes war mit einer ebenso vollständigen Sammlung der englischen Klassiker ausgestattet, wie sie die rechte an englischen und ausländischen Physiologen aufweisen konnte. Aber wenn man einen Band Chaucer oder Shelley aus ihrer Reihe nahm, irritierte deren Abwesenheit den Geist ebenso wie eine Lücke in eines Mannes vorderen Zahnreihe. Man konnte nicht behaupten, daß die Bücher niemals gelesen würden; vermutlich wurden sie es, aber da waltete so ein Eindruck, als seien sie an ihre Plätze gekettet wie die Bibeln in alten Kirchen. Dr. Hood behandelte seine privaten Bücherregale, als seien sie eine öffentliche Bibliothek. Und wenn diese strenge wissenschaftliche Unantastbarkeit sich sogar auf die mit Lyrik und Balladen beladenen Borde und die mit Getränken und Tabak beladenen Tische erstreckte, dann braucht nicht ausdrücklich betont zu werden, daß eine noch größere heidnische Heiligkeit jene anderen Regale schützte, die des Spezialisten Fachbibliothek enthielten, und jene anderen Tische, die die zerbrechlichen und sogar zauberhaften Gerätschaften der Chemie und der mechanischen Verfahren trugen.
    Dr. Hood durchschritt die Flucht seiner Räume, die – wie die geographischen Schulbücher es ausdrücken – im Osten von der Nordsee und im Westen von den gedrängten Reihen seiner soziologischen und kriminologischen Fachbibliotheken begrenzt wurden. Er war in Künstlersamt gekleidet, aber mit keiner der Nachlässigkeiten eines Künstlers; sein Haar war bereits stark angegraut, wuchs aber dicht und gesund; sein Gesicht war mager, aber gut durchblutet und erwartungsvoll. Alles an ihm und in seinen Räumen wies etwas zugleich Steifes und Ruheloses auf wie jene große nördliche See, an der er (aus rein hygienischen Grundsätzen) sein Heim erbaut hatte.
    Das Schicksal, gerade spaßhaft gelaunt, stieß die Tür auf und geleitete jemanden in jene langgestreckten, gestrengen, seebegrenzten Räume, der vielleicht ihr und ihres Herrn verblüffendstes Gegenteil war. In Beantwortung eines kurzen, aber höflichen Klopfens öffnete sich die Tür nach innen, und in den Raum watschelte eine formlose kleine Gestalt, die ihren eigenen Hut und Schirm ebenso unhandlich zu finden schien wie einen großen Berg Gepäck. Der Regenschirm war ein schwarzes und prosaisches Bündel, längst jenseits jeder Reparatur; der Hut war ein schwarzer Hut mit breiten hochgerollten Krempen, klerikal, aber für England ungewöhnlich; der Mann selbst war die reine Verkörperung all dessen, was schlicht und hilflos ist.
    Der Doktor betrachtete den Neuankömmling mit zurückhaltendem Erstaunen, nicht unähnlich jenem, das er gezeigt haben würde, wenn irgend ein riesiges, aber offenkundig harmloses Seewesen in sein Zimmer gekrochen wäre. Der Neuankömmling betrachtete den Doktor mit jener strahlenden, aber atemlosen Freundlichkeit, die eine umfangreiche Putzfrau kennzeichnet, der es gerade noch gelungen ist, sich in einen Bus zu stopfen. Eine reiche Mischung aus gesellschaftlicher Selbstbeglückwünschung und körperlicher Durcheinanderkeit. Sein Hut war auf den Teppich gefallen, sein schwerer Schirm glitt ihm

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