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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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grau-sandfarbenen Schnurrbart; wenn er nicht von so gebeugter Haltung gewesen wäre, hätte er ein Oberst sein können. Er hielt eine Anzahl ungeöffneter Briefe in der Hand. Sein Sohn Frank war ein wirklich wohlgeratener Bursche, kraushaarig, sonnenverbrannt und lebhaft; aber auch ihn beachtete niemand. Aller Augen richteten sich wie üblich, wenigstens im Augenblick, auf Ethel Harrogate, deren goldenes griechisches Haupt und deren Farben der Morgenröte wie absichtlich über jene saphirene See gesetzt erschienen, wie das Haupt einer Göttin. Der Poet Muscari sog die Luft ein, als täte er einen tiefen Trunk, was er auch wirklich tat. Er trank klassische Antike; die seine Ahnen geschaffen hatten. Ezza betrachtete sie mit der gleichen Intensität, aber mit unsteterem Blick.
    Miss Harrogate war bei dieser Gelegenheit besonders strahlend und zum Plaudern aufgelegt; und ihre Familie hatte sich in die bequemere kontinentale Lebensweise sinken lassen, die es dem fremden Muscari und sogar dem Reiseführer Ezza gestattete, ihnen bei Tisch und Gespräch Gesellschaft zu leisten. In Ethel Harrogate krönte sich Konventionalität durch Vollendung und eigenen Glanz selbst. Stolz auf ihres Vaters Steinreichtum, fröhlich fashionablen Vergnügungen hingegeben, liebende Tochter, aber wetterwendischer Flirt, all das war sie, doch in einer Art goldiger Gutmütigkeit, die selbst noch ihren eigenen Stolz erfreulich und ihre gesellschaftliche Ehrsamkeit erfrischend und erquickend machte.
    Sie waren in heller Erregung über irgendwelche Gefahren auf den Bergstraßen, die sie in jener Woche befahren wollten. Diese Gefahren bestanden nicht in Steinschlag und Lawinen, sondern in etwas weit Romantischerem. Ethel war in allem Ernst versichert worden, daß Banditen, die wahren Gurgelschlitzer moderner Märchen, immer noch in den Apenninen die einen Klüfte heimsuchten, die anderen Paßstraßen hielten.
    »Man sagt«, rief sie mit dem ehrfurchtsvollen Vergnügen eines Schulmädchens, »daß diese ganze Landschaft nicht vom König von Italien, sondern vom König der Diebe beherrscht wird. Wer ist der König der Diebe?«
    »Ein großer Mann«, erwiderte Muscari, »wohl wert, zusammen mit Ihrem Robin Hood genannt zu werden, Signorina. Von Montano, dem König der Diebe, hörte man in den Bergen zum ersten Mal vor etwa 10 Jahren, als man behauptete, die Banditen seien ausgerottet. Aber seine wilde Macht verbreitete sich mit der Schnelligkeit einer schweigenden Revolution. Man fand seine herrischen Bekanntmachungen in jedem Gebirgsdorf angenagelt; seine Wachposten, die Büchse in der Hand, in jeder Bergesschlucht. Sechsmal versuchte die italienische Regierung, ihn auszuheben, und sechsmal ward sie in regelrechten Schlachten besiegt, wie von Napoleon.«
    »Also so was«, bemerkte der Bankier gewichtig, »würde in England niemals zugelassen werden; vielleicht sollten wir doch eine andere Strecke wählen. Aber unser Reiseführer war der Ansicht, daß sie vollkommen sicher sei.«
    »Sie ist vollkommen sicher«, sagte der Reiseführer verächtlich. »Ich habe sie schon zwanzigmal befahren. Vielleicht gab es da zur Zeit unserer Großmütter irgendeinen alten Galgenvogel, den man König nannte; aber das gehört in die Geschichte, wenn nicht gar in die Legende. Heute ist das Banditentum völlig ausgerottet.«
    »Es kann niemals völlig ausgerottet werden«, sagte Muscari; »denn der bewaffnete Aufstand ist den Südländern eine Art natürliche Reaktion. Unsere Bauern sind wie ihre Berge, reich an Anmut und grüner Heiterkeit, aber darunter glühen die Feuer. Es gibt in der menschlichen Verzweiflung einen Grenzpunkt, an dem die nördlichen Armen zu den Flaschen greifen – und unsere Armen zu den Dolchen.«
    »Dichter haben Vorrechte«, höhnte Ezza zur Antwort. »Wenn Signor Muscari Engländer wäre, würde er immer noch bei Wandsworth nach Straßenräubern suchen. Glauben Sie mir, da besteht in Italien nicht größere Gefahr, entführt zu werden, als in Boston skalpiert zu werden.«
    »Also schlagen Sie vor, es zu versuchen?« fragte Mr. Harrogate stirnrunzelnd.
    »Oh, das klingt eher schrecklich«, rief das Mädchen und wandte ihre strahlenden Augen Muscari zu. »Glauben Sie wirklich, daß der Paß gefährlich ist?«
    Muscari warf seine schwarze Mähne zurück. »Ich weiß, daß er gefährlich ist«, sagte er. »Ich werde ihn morgen überqueren.«
    Der junge Harrogate blieb einen Augenblick zurück, um sein Glas Weißwein zu leeren und sich eine Zigarette

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