Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit
war. Wie lange die vierte Gestalt bereits da gestanden hatte, konnte keiner der drei ernsthaften Disputanten sagen, aber es schien ganz so, als stünde sie da und warte respektvoll und sogar schüchtern auf die Gelegenheit, etwas Dringliches zu sagen. Für ihre nervöse Empfindsamkeit aber schien sie plötzlich und schweigend emporgeschossen zu sein wie ein Pilz. Und sie sah tatsächlich einem großen schwarzen Pilz ähnlich, denn sie war sehr klein, und die untersetzte Figur verschwand im Schatten ihres großen schwarzen klerikalen Hutes; die Ähnlichkeit wäre noch vollständiger gewesen, wenn Pilze die Angewohnheit hätten, Regenschirme von einer schäbigen und unförmigen Art bei sich zu haben.
Fenner, der Sekretär, wurde sich einer eigenartigen zusätzlichen Überraschung bewußt, als er die Gestalt eines Priesters erkannte; als aber der Priester unter dem runden Hut sein rundes Gesicht aufwärts wandte und unschuldig nach Mr. Warren Wynd fragte, gab er die übliche negative Antwort fast noch schroffer als zuvor. Doch der Priester ließ sich nicht abschrecken.
»Ich möchte aber wirklich Mr. Wynd sehen«, sagte er. »Das mag merkwürdig erscheinen, aber genau das möchte ich tun. Ich will nicht mit ihm sprechen. Ich will ihn nur sehen. Ich will nur sehen, ob er zu sehen ist.«
»Also, ich sage Ihnen, daß er da ist, daß man ihn aber nicht sehen kann«, sagte Fenner zunehmend gereizt. »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, Sie wollten nur sehen, ob er zu sehen ist? Natürlich ist er da. Wir haben ihn alle vor 5 Minuten verlassen, und seither haben wir hier vor der Tür gestanden.«
»Nun, dann möchte ich sehen, ob er in Ordnung ist«, sagte der Priester.
»Warum?« fragte der Sekretär verärgert.
»Weil ich einen gewichtigen, ich möchte fast sagen feierlichen Grund habe«, sagte der Kleriker sehr ernst, »daran zu zweifeln, daß er in Ordnung ist.«
»O Gott!« rief Vandam fast wütend, »nicht noch mehr Aberglaube.«
»Ich sehe schon, daß ich Ihnen meine Gründe angeben muß«, bemerkte der kleine Kleriker sehr ernst. »Ich nehme an, ich kann nicht einmal erwarten, daß Sie mich durch einen Türspalt schauen lassen, ehe ich Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt habe.«
Er schwieg einen Augenblick lang nachdenklich und fuhr dann fort, ohne die verwunderten Gesichter um ihn herum zu beachten. »Ich ging da unten am Säulengang entlang, als ich einen reichlich zerlumpten Mann schnell um die Ecke am Ende des Halbmondbogens rennen sah. Er raste über das Pflaster auf mich zu und ließ mich eine große grobknochige Gestalt und ein Gesicht sehen, das ich erkannte. Es war das Gesicht eines wilden Iren, dem ich früher mal ein bißchen geholfen habe; seinen Namen werde ich Ihnen nicht sagen. Als er mich sah, taumelte er, rief meinen Namen und sagte: ›Bei allen Heiligen, das ist Father Brown; Sie sind der einzige Mann, dessen Gesicht mir heute Angst machen kann.‹ Da wußte ich, er meinte, daß er heute etwas Übles angestellt hatte, und ich glaube nicht, daß ihm mein Gesicht wirklich Angst gemacht hat, denn sofort danach erzählte er mir davon. Und das war eine sehr merkwürdige Geschichte. Er fragte mich, ob ich Warren Wynd kenne, und ich sagte nein, obwohl ich wußte, daß er ziemlich hoch oben in diesem Gebäudekomplex wohnt. Er sagte: ›Das ist ein Mann, der sich einbildet, ein Heiliger Gottes zu sein; aber wenn er wüßte, was ich von ihm sage, dann wäre er bereit, sich selbst aufzuhängen.‹ Und hysterisch wiederholte er mehrere Male: ›Ja, bereit, sich selbst aufzuhängen.‹ Ich fragte ihn, ob er Wynd irgendein Leid angetan habe, und seine Antwort war reichlich sonderbar. Er sagte: ›Ich habe mir eine Pistole genommen und sie weder mit Kugel noch mit Schrot geladen, sondern mit einem Fluch.‹ Soweit ich verstanden habe, war alles, was er getan hat, daß er die kleine Straße zwischen diesem Gebäude und dem großen Lagerhaus hinabgegangen ist mit einer alten Pistole, die mit einer Platzpatrone geladen war, und daß er damit gegen die Mauer geschossen hat, als könne dies das Gebäude zum Einsturz bringen. ›Aber als ich das getan habe‹, sagte er, ›verfluchte ich ihn mit dem großen Fluch, daß die Gerechtigkeit Gottes ihn beim Schopf ergreifen solle und die Rache der Hölle bei den Fersen und daß er auseinandergerissen werden solle wie Judas, auf daß die Welt ihn nicht mehr kenne.‹ Nun, es spielt jetzt keine Rolle, was ich dem armen verrückten Kerl sonst noch gesagt habe;
Weitere Kostenlose Bücher