Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit
Psychologe von großem Ruf; er war dafür bekannt, daß er ein unparteiisches Interesse an der Kriminologie hatte; und erst einige Zeit später entdeckten sie, daß er überhaupt mit der Polizei in Beziehung stand.
Professor Vair war ein höflicher Mann, er trug einen ruhigen hellgrauen Anzug, eine künstlerische Krawatte und einen blonden Spitzbart; für jemanden, dem ein bestimmter Typ des Hochschullehrers unbekannt ist, sah er eher wie ein Landschaftsmaler aus. Sein Gesicht drückte nicht allein Höflichkeit, sondern sogar Offenheit aus.
»Ja ja, ich weiß«, sagte er lächelnd, »ich kann mir vorstellen, was Sie durchgemacht haben. Die Polizei zeigt sich bei Untersuchungen psychischer Art nicht in ihrem besten Licht, oder? Natürlich, der gute alte Collins sagt, daß er nur Tatsachen haben will. Welch ein absurder Fehler! In einem Fall dieser Art wünschen wir aufs entschiedenste nicht nur die Tatsachen. Es ist uns viel wesentlicher, auch die Phantasien zu erfahren.«
»Wollen Sie damit sagen«, fragte Vandam gewichtig, »daß alles, was wir Tatsachen nennen, nur Phantasien waren?«
»Keineswegs«, sagte der Professor, »ich wollte nur sagen, daß die Polizei dumm ist, wenn sie sich einbildet, sie könne das psychologische Moment dieser Dinge außer acht lassen. Dabei ist doch das psychologische Element alles in allem, obwohl man das erst jetzt zu begreifen beginnt. Nehmen wir, um damit zu beginnen, das Persönlichkeit genannte Element. Nun habe ich von diesem Priester Father Brown schon früher gehört; und sicherlich ist er einer der bemerkenswertesten Männer unserer Zeit. Männer dieser Art tragen eine gewisse Art von Atmosphäre mit sich; und niemand weiß bis anhin, wie sehr Nerven und sogar Sinne durch sie beeinflußt werden. Die Leute sind hypnotisiert – ja, hypnotisiert; denn auch Hypnose ist wie alles andere eine Frage des Grades; sie schleicht sich leicht in alle Alltagsgespräche ein: Sie braucht nicht unbedingt von einem Herrn im Smoking auf einer Bühne in einem Varieté vorgeführt zu werden. Father Browns Religion hat schon immer die Psychologie des Atmosphärischen verstanden und weiß, wie sie alles gleichzeitig anspricht; selbst zum Beispiel den Geruchssinn. Sie versteht jene eigenartigen Wirkungen, die Musik auf Tiere und Menschen ausübt; sie kann – «
»Hol’s der Henker«, protestierte Fenner, »glauben Sie denn, er wäre mit einer Kirchenorgel unterm Arm den Korridor hinabspaziert?«
»Er ist zu klug, um so was zu tun«, sagte Professor Vair lachend. »Er weiß, wie man die Essenz all dieser geistigen Töne und Ansichten und sogar Gerüche in einige wenige zurückhaltende Gesten konzentriert; in eine Kunst oder Schule des Verhaltens. Er könnte Ihren Geist allein durch die Tatsache seiner Gegenwart so auf das Übernatürliche konzentrieren, daß Natürliches rechts und links an Ihrem Geist unbemerkt vorüberglitte. Nun müssen Sie wissen«, fuhr er fort und kehrte in eine heitere Vernünftigkeit zurück, »daß die Frage menschlicher Bezeugungen um so sonderbarer wird, je mehr wir sie studieren. Nicht einer unter 20 nimmt Dinge überhaupt wahr. Nicht einer unter 100 nimmt sie wirklich genau wahr; und sicherlich kann nicht einer unter 100 zunächst wahrnehmen, sich dann erinnern und schließlich beschreiben. Immer und immer wiederholte wissenschaftliche Experimente haben erwiesen, daß Menschen unter Druck geglaubt haben, eine Tür sei geschlossen, wenn sie offen war, oder offen, wenn sie geschlossen war. Menschen waren sich uneins über die Anzahl von Türen oder Fenstern in einer Mauer ihnen direkt gegenüber. Sie erlitten bei hellem Tageslicht optische Täuschungen. Ihnen widerfuhr das sogar ohne die hypnotische Wirkung von Persönlichkeit; hier aber haben wir eine ungemein kraftvolle und überzeugende Persönlichkeit, die darauf aus ist, ein ganz bestimmtes Bild in Ihrem Geist zu fixieren; das Bild eines wilden irischen Rebellen, der seine Pistole wider den Himmel schüttelt und jene schußlose Salve abfeuert, dessen Echo der Donner vom Himmel war.«
»Professor«, schrie Fenner, »ich werd noch auf meinem Sterbebett beschwören, daß jene Tür niemals geöffnet wurde.«
»Jüngste Versuche«, fuhr der Professor ruhig fort, »haben den Verdacht nahegelegt, daß unser Bewußtsein nicht beständig ist, sondern aus einer Folge sehr schneller Eindrücke besteht, etwa wie ein Film; es ist möglich, daß jemand oder etwas sozusagen zwischen den Szenen herein- oder
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